Wolfgang Michal
Umbrüche & Entwicklungen

Ich kandidiere!

16. Juni 2011, 11:55

Eine Zeitlang hat man uns eingehämmert, die gegenwärtige Politik sei „alternativlos“. Das ist vorbei. Eine zunehmende Zahl von „Spaßkandidaten“ zeigt, wie man die erstarrten Verhältnisse zum Tanzen bringt.

Im Anfang war Henryk M. Broder. Er bewarb sich – gegen Charlotte Knobloch – um die Präsidentschaft des Zentralrats der Juden. Die Aktion sorgte für helle Aufregung, denn niemand wusste: Meint Broder es ernst?

Dann kam Claudius Seidl. Der wortgewaltige Feuilletonchef der FAS schickte sich an, unter dem nichtendenwollenden Beifall seines Kollegen Michael Hanfeld ZDF-Intendant Markus Schächter zu beerben. Auch Seidl hielt die Ernsthaftigkeit seines Angebots kunstvoll in der Schwebe.

Die beiden Spaßkandidaten „rockten“ die Szene – denn beide drückten einen vorhandenen Unmut über nicht vorhandene Alternativen aus; es war ein greller Protest gegen eine stille, kraftlose Opposition.

Ein Wetterleuchten in drückender Atmosphäre

Spaßkandidaturen sind eine zwiespältige Form der Kritik. Manche „Clowns“ kandidieren nur deshalb für ein öffentliches Amt, weil sie damit Wirbel und Werbung in eigener Sache erzeugen, was in der Regel heißt: für ihr neues Buch, ihr neues Album, ihren neuen Film. Aus diesen Gründen „kandidierten“ Paris Hilton oder Hape Kerkeling – und es würde wohl niemanden wundern, wenn auch Egoshooter Matthias Matussek zur Verkaufsförderung seines neuen Buchs gegen den in Glaubensfragen „allzu laxen“ Kardinal Meißner kandidieren würde (und genau deshalb werden Kardinäle nicht gewählt, sondern berufen).

Einerseits also ist es erschreckend, dass Komiker in die Rolle politischer Herausforderer schlüpfen (etwa Beppe Grillo gegen Silvio Berlusconi), andererseits ist es ermutigend, mit welcher Durchschlagskraft und öffentlichen Wirkung solche Komödianten auf demokratische Mängel hinweisen. Es entbehrt allerdings auch nicht einer gewissen Komik, dass ernsthafte Gegenkandidaten heute vielerorts nur deshalb der Spaßkandidatur bezichtigt werden, weil sie ohne realistische Gewinnaussichten antreten und „lediglich“ von einem demokratischen Recht Gebrauch machen.

Spaßkandidaturen, so meine These, sind ein Wetterleuchten in drückender Atmosphäre. Sie geben den Menschen die Hoffnung zurück, dass es jenseits der behaupteten Alternativlosigkeit vielleicht doch eine Alternative geben könnte. Und sie demonstrieren, dass die bewusste (und fröhliche) Inkaufnahme einer todsicheren Niederlage nur der Auftakt zum künftigen Sieg ist, weil jede Kandidatur, und sei sie noch so spaßig, eine Plattform bietet für das Einbringen neuer Ideen. Sie zwingt die Verfechter der Alternativlosigkeit zur Begründung ihrer Politik.

Es ist deshalb ein ermutigendes Zeichen, dass die Co-Präsidentin von Attac Frankreich, Aurélie Trouvé, gegen die bereits ausgemauschelte EU-Kandidatin Christine Lagarde für den Chefposten des Internationalen Währungsfonds (IWF) kandidiert.

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