Wolfgang Michal
Umbrüche & Entwicklungen

Ägypten: Folgt auf die Februarrevolution nun eine Oktoberrevolution?

21. November 2011, 18:21

Oft braucht es mehrere Anläufe, um ein „System“ zu stürzen. In Ägypten will das Militär die Macht behalten. Als Staat im Staat lebt es auf Kosten der Bevölkerung und fürchtet um seine Privilegien.

Die Militärherrscher am Mittelmeer wollen nicht aufgeben. Nun rebelliert das Volk erneut gegen seine anhaltende Bevormundung. Der Spiegel schreibt:

„Eine breite Front von jugendlichen Revoluzzern, linken Parteien und Anhängern der islamistischen Muslimbrüderschaft ist in den vergangenen Tagen mehrfach gegen den derzeit regierenden Militärrat auf die Straßen gegangen. Die Menschen haben den Generälen öffentlich und lautstark das Vertrauen entzogen. Auslöser war die Veröffentlichung des Selmy-Dokuments vor drei Wochen, benannt nach dem von der Armee eingesetzten stellvertretenden Ministerpräsidenten Ali el-Selmy. In dem Papier skizziert der Militärrat, wie er sich Ägypten nach der Wahl vorstellt: Der Armee soll demnach die Oberaufsicht zugesprochen werden, sie stünde außerhalb des Gesetzes, wird von der Regierung letztlich nicht kontrolliert.“

Nach dem Vorbild Kemal Atatürks in der Türkei will der „Oberste Rat der Ägyptischen Streitkräfte“ weiter die Macht ausüben – zunächst. Doch was 1923, nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zerfall des Osmanischen Reichs, eine echte Modernisierung war (die in der Abschaffung des Sultanats und des Kalifats gipfelte), ist heute, fast hundert Jahre später, nur noch eine anti-demokratische Verzögerungstaktik. Der ägyptische Militärrat will den Kemalismus, um seine Privilegien über die Zeit zu retten.

Dieser Militärrat – an dessen Spitze ein alter Mubarak-Getreuer steht – setzte zunächst das Juristen-Komitee ein, das die vorläufigen Verfassungsänderungen ausarbeitete. Wobei nur wenige Artikel der alten (bereits für ungültig erklärten) Verfassung überarbeitet werden durften. In ihnen ging es um die Wahl und die Machtfülle des künftigen Präsidenten sowie um die Rücknahme der zahlreichen Grundrechts-Einschränkungen, die im Zuge des Antiterrorkampfes und des seit 30 Jahren geltenden Ausnahmezustands in die Verfassung geschrieben wurden (Art.179). Nun aber stellt sich heraus, dass die Machthaber nicht gewillt sind, die Ausarbeitung einer komplett neuen Verfassung oder die Kontrolle der Streitkräfte in die Hände des neu zu wählenden Parlaments zu legen.

Deshalb wenden sich die aktivsten Teile der Februarrevolution nun gegen das angeblich so „beliebte“ Militär. Genauer: Sie wenden sich gegen die autokratische Militärführung. Warum? Was ist der tiefere Grund für das seit Februar enorm gewachsene Misstrauen und den neuerlichen Volkszorn? Zum einen der Umstand, dass bislang noch kein einziger Verantwortlicher für die im Januar und Februar getöteten 846 Demonstranten verurteilt worden ist, zum anderen die anhaltende wirtschaftliche und gesellschaftliche Stagnation des Landes, für die das Militär die Hauptverantwortung trägt.

Die Armee ist nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems

Ägypten verfügt über eine riesige Armee. Sie verschlingt Unsummen an Geld, das für die Entwicklung des Landes dringend gebraucht würde. Die Gesamtstärke der Streitkräfte liegt heute bei 469.000 Mann (ohne Reservisten, ohne Nationalgarde, ohne die armeestarke Polizeitruppe des Innenministeriums). Damit unterhält das Land am Nil die zehntgrößte Armee der Welt. Und diese Armee führt ein aufreizendes Eigenleben. Sie besitzt eigene Fabriken, eigene landwirtschaftliche Betriebe, Baufirmen, Hotels, Krankenhäuser, Sanatorien. Sie kontrolliert die Rüstungsindustrie und verteilt die milliardenschweren Militärhilfen aus den USA nach eigenem Gutdünken. Aber niemand darf die Armee und ihre dunklen Geschäfte kontrollieren. Offiziere und Generäle erhalten fürstliche „Zuwendungen“ und sind bei der Postenvergabe nach ihrem frühen Ausscheiden aus dem Dienst in jeder Hinsicht privilegiert. Protestiert hat dagegen in der Vergangenheit niemand, denn die Armee ist der größte Arbeitgeber Ägyptens. Kurzum: Keine andere Institution profitierte und profitiert stärker vom alten politischen System als die Armee.

Das ist auch kein Wunder. Alle Präsidenten seit dem Militärputsch von 1952 kamen aus ihr. Die meisten Gouverneure der 29 ägyptischen Provinzen entstammen dem Militär. Das ägyptische Militär ist ein Schlaraffenland für eine bequeme Kaste. Jetzt die Macht an ein ziviles Parlament abgeben zu müssen (und von diesem auch noch kontrolliert zu werden), fällt schwer. Also wird – wie im Fall der türkischen AKP – vor der Machtübernahme der Islamisten gewarnt, vor der Verabsolutierung des islamischen Rechts, vor der Ausgrenzung politischer und religiöser Minderheiten (Kopten), vor der Unterdrückung der Frauen.

Diese Gefahren bestehen durchaus. Doch der Grund, warum die Islamisten so stark werden konnten, liegt im angenehmen Leben einer abgehobenen Militärkaste, die absolut nichts zur Überwindung der Krise beiträgt. Das jetzige Aufbegehren ist das Aufbegehren der Armen gegen die Reichen, der Vernachlässigten gegen die Privilegierten, der Nationalisten gegen die von westlichen Großmachtinteressen verhätschelten „Verräter“. Dass die Führer der islamistischen Parteien den Volkszorn ausnützen und anfeuern, ist nicht besonders überraschend.

Die zivilen Kräfte dazwischen, jene dünne, sich gerade erst bildende bürgerliche Schicht der Aufgeklärten, die jungen, gut ausgebildeten, aber in die Arbeitslosigkeit schlitternden Zeltbewohner, die Studenten, die Frauen, die in modernen Branchen arbeitenden Angestellten, die Anwälte und kleinen Unternehmer, alle, die an der Etablierung eines Rechtsstaats interessiert sind – sie werden bei diesen Wahlen nur eine geringe Rolle spielen, sie werden die Verlierer sein. Denn so lange die Gesellschaften Europas die zivilgesellschaftlichen Kräfte in Ägypten nicht aktiver unterstützen, durch Stipendien, Austausch, Bildung, Organisation und Wagniskapital; und so lange die dringend notwendige Konversion des aufgeblähten ägyptischen Militär-Komplexes in zivile Strukturen nicht in Gang kommt, kann sich der begonnene Umbruch nicht wirklich durchsetzen und festigen.

Update 22.11.: Weder der gestern Abend erfolgte Rücktritt der Regierung (die sowieso nichts zu sagen hatte) noch das Vorziehen der Präsidentenwahl auf Juni 2012 ändern etwas an der Machtfülle des Militärs. 

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