Wolfgang Michal
Umbrüche & Entwicklungen

Die Talkshow-Nachbesprechung

30. November 2015, 15:15

Im Internet beschäftigen sich die Zeitungen am liebsten mit dem Fernsehen. Das heißt, sie geben uns noch mal schriftlich, wer mit wem gestern in der Talkshow diskutiert hat.

Talkshows sind in Deutschland sehr beliebt. Man kann den immer gleichen Leuten zuhören, es sei denn, die Teilnehmer sterben den Moderatoren eines Tages weg.

Neuerdings folgt auf jede Talkshow eine Talkshow-Nachbesprechung. In allen Online-Medien, die etwas auf sich halten, erfährt man schon wenige Stunden nach der Sendung, was man gedacht haben könnte, wenn man nicht dummerweise eingeschlafen oder mit einem besonders schweren Candy Crush-Level beschäftigt gewesen wäre. Man muss nicht mehr nach-denken, das übernehmen jetzt „Frühkritiker“. Die schlagen sich die Nächte um die Ohren, damit wir am nächsten Morgen erfahren, ob das, was am Abend zuvor im Fernsehen diskutiert worden ist, auch wirklich dort diskutiert worden ist. Es wird noch mal referiert, eingeordnet und kommentiert, was die Talkshow-Teilnehmer referiert, eingeordnet und kommentiert haben. Dieses Nachkauen scheint sich derzeit zu einem veritablen Industriezweig zu entwickeln. Sicher wird man After-Talkshows bald schon im F.A.Z.-Lesesaal social readen oder als Poetry Slam in Kleinkunsttheatern aufführen. Und bestimmt wird es in absehbarer Zeit eine App geben, auf der Talkshow-Nachbesprechungs-Experten die unverzichtbarsten Frühkritiken für besonders eilige Leser kuratieren.

Die Talkshow-Nachbesprechung wird gern gelesen. Sie ist fast so beliebt wie die Talkshow selbst. Was soll man am Montagmorgen auch sonst im Büro machen? Die Talkshow-Nachbesprechung ist der zeitgemäße Ersatz für das verloren gegangene Familien-Lagerfeuer der Samstagabendunterhaltung. Allerdings sitzt man nicht mehr gemeinsam um ein Lagerfeuer, sondern liest einsam im Büro (oder sonstwo), wie das zu bewerten ist, was die, die wir schon lange kennen, gestern in der Talkshow von sich gegeben haben.

Die Talkshow-Nachbesprechung hat übrigens längst ein Gegenstück: die „Tatort“-Vorbesprechung.

P.S. Christian Bartels (@ChrBartels) gibt auf Twitter den wichtigen Hinweis, dass die Talkshow-Nachbesprechung – medienhistorisch gesehen – dem Online-Journalismus zum Durchbruch verholfen habe. Was sagt das über die Eigenständigkeit und Originalität des Online-Journalismus?

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2 Kommentare

  1. Ja, stimmt, habe ich in jüngerer Zeit auch oft gedacht. Aber: So, wie der Hans Hütt das gerade in der FAZ zu den Sendungen über Flüchtlinge bei Maischberger und Will gemacht hat, fühle ich mich auf eine reflektierte Weise über einen Gesichtspunkt des Zeitgeschehens informiert, den ich mir nicht selbst anschauen würde.

  2. TangoZulu kann ich mich anschließen; Hütt ist eine wohltuende Ausnahme. Ansonsten, fürchte ich, wird die Aufgabe der Nachbesprechung in Kürze von Algorithmen ausgeführt. Vielleicht ja eines Tages auch die Talkshows selbst 😉

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