Wolfgang Michal
Umbrüche & Entwicklungen

Schulz-Hype und Merkel-Blues oder: Das perfekte Wahlergebnis

16. März 2017, 11:19

Viele glauben, der Schulz-Hype werde für eine Ablösung der Großen Koalition sorgen. In Wahrheit wird sie dadurch erst so richtig alternativlos.

Der stellvertretende SPD-Vorsitzende Olaf Scholz hatte Recht. Im Juni 2016 sagte er in einem Spiegel-Interview: „Wenn die Bürgerinnen und Bürger uns zutrauen, das Land zu führen, kann das in den Umfragen schnell zusätzlich zehn Prozentpunkte bringen. Das ist im Übrigen ungefähr der Abstand, der uns derzeit von der Union trennt.“

Die zusätzlichen zehn Prozentpunkte sind da. Und weil „die Bürgerinnen und Bürger“ dem SPD-Kandidaten Martin Schulz zutrauen, „das Land zu führen“, ergibt sich eine paradoxe Situation: Gerade weil durch den SPD-Aufschwung nun „ein frischer Wind“ weht – im Sinne von Habermas’ „demokratischer Polarisierung“ – wird alles so bleiben wie es ist. Sollten Union und SPD bei der Wahl am 24. September ungefähr das Ergebnis holen, das ihnen derzeit in den Umfragen prognostiziert wird, gibt es keine Alternative zur Großen Koalition.

Gleichgewicht der Klassenkräfte

Angenommen, CDU/CSU erreichen 32 Prozent, die SPD 31, die Linke 8, die Grünen 8, die FDP 6, die AfD 11 und die sonstigen Parteien 4 Prozent. So lauten die jüngsten Umfragezahlen von infratest/dimap. Das würde bedeuten:

Rot-rot-grün hätte mit 47 Prozent keine Mehrheit. Auch wenn es im Parlament nach Mandaten reichen würde, wäre diese Koalition so instabil und so starkem Gegenwind ausgesetzt, dass die SPD – angesichts der knappen Mehrheit und der politischen Probleme in Europa – ein solches Risiko kaum eingehen wird.

Rot-Gelb-Grün hätte 45 Prozent. Das wäre eindeutig zu wenig.

Schwarz-grün mit 40 Prozent und schwarz-gelb mit 38 Prozent wären ebenfalls außen vor.

Schwarz-gelb-grün hätte 46 Prozent. Der Gegenwind aus der Wirtschaft und den Leitmedien wäre zwar schwächer, aber die Koalition wäre aufgrund ihrer inneren Widersprüche und der Schwäche der Union ebenso instabil wie rot-rot-grün.

Eine Viererkoalition aus SPD, FDP, Grünen und Linken hätte zwar eine Mehrheit diesseits der Union (53 Prozent), aber eine Viererkoalition wäre noch unrealistischer als schwarz-gelb-grün oder rot-rot-grün.

Europa als Begründung

Es bliebe also nichts anderes übrig, als die existierende Große Koalition fortzusetzen. Entweder als Kabinett Merkel IV mit SPD-Vizekanzler Gabriel und Martin Schulz als Oppositionsführer im Parlament oder – wenn die SPD knapp vor der Union landen sollte – als Kabinett Schulz I mit der Vizekanzlerin von der Leyen.

Eine Fortsetzung der großen Koalition wäre sicher die Lieblingsvariante eines beachtlichen Teils der Bevölkerung, und der deutschen Wirtschaft sowieso. Die Eliten wollen ein starkes deutsches Zentrum in Europa, das den politischen Fliehkräften etwas von Gewicht entgegensetzen kann. Wie aber konserviert man die derzeitigen Umfrageergebnisse bis zum 24. September? Sechs Monate sind eine lange Zeit.

Die Medien als Balkenwaage

Spannend wird sein, wie sich die Medien (die ja meist die Auftraggeber der Umfragen sind) im Wahlkampf verhalten. In ihrer Sorge um eine stabile deutsche Regierung in einem instabilen Europa könnten sie versucht sein, „helfend“ eingreifen: Steigen die Umfragewerte für die Schulz-SPD zu stark an, könnten die Warnungen vor Rot-rot-grün und die Kritik am populistischen Wahlkampfstil des Kandidaten wieder stärkere Medien-Resonanz finden (die Seehofer-Porträts würden dann automatisch milder ausfallen). Fallen die Umfragewerte der Merkel-Union unter jene der SPD, könnte eine Renaissance wohlwollender Merkel-Porträts einen allzu starken Niedergang aufhalten. Steigen die Werte von Union und SPD infolge der „demokratischen Polarisierung“ gleichzeitig an (was natürlich auf Kosten der kleineren Parteien geht), dürften Grüne und FDP (aber nicht Linke und AfD) auf eine größere Berücksichtigung ihrer Anliegen hoffen. Eine gemäßigte Opposition, die zu klein ist – das ist die Lehre aus der laufenden Legislaturperiode – nützt vor allem den „Populisten“.

Wir könnten also einen Wahlkampf erleben, in dem Parteien und Nachrichten-Medien wie eine große Balkenwaage funktionieren. Um das erwünschte stabile „Gleichgewicht der Klassenkräfte“ zu erhalten (= große Koalition), muss jeweils so viel (Berichts-)Masse auf die eine oder die andere Waagschale gelegt werden, dass sich keine der beiden Schalen zu stark nach oben oder nach unten bewegt.

Diese Art der Selbststeuerung der Demokratie kann sogar funktionieren – solange niemand da ist, der die Balkenwaage wütend in die Ecke feuert.

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3 Kommentare

  1. Die Zeiten sind wohl vorbei, als es ausreichte, zwei bis drei wöchentlich erscheinende Presseprodukte zu überfliegen, um einen Überblick über das heimische veröffentlichte Meinungsspektrum zu haben. Heute könnte eine adelige Störchin mittels Twatterei à la Trump das nette Selbststeuerungskartell heftig durcheinander bringen.
    Es wird langsam überdeutlich, welche enorme Leistung FJS seelig eigentlich für die alte BRD erbracht hatte, indem er den rechten Rand drinnen hielt, um ihn dann ganz tief drunten zu halten. Der Großvater der Störchin (Adolf Nazis Finanzminister, wenn ich mich recht erinnere) war da nämlich um einiges cleverer als seine Enkelin heut zu Tage. Ich möchte nicht darüber spekulieren, was diese Großkaliber unter den Altvorderen aus den heutigen Möglichkeiten machen würden.

  2. Nein, lieber Wolfgang Michal, das ist viel zu skeptisch. Schon ihre Rechnung stimmt nicht. Wahrscheinlich ist man mit 47, spätestens 48 Prozent durch. Und wir schreiben nun März, die Wahlen sind im September. Ein Problem, das ihre These freilich bestärkt, ist, dass der Aufschwung der SPD im Moment Grüne und Linke herunter zieht. In manchen Umfragen geht das bis auf 6,5 Grüne und 7 Linke runter.
    Ich finde eine ganz andere Frage spannend: was ist denn das gemeinsame Reformprogramm von R2G? Geht die SPD so stark wie im Moment in diese Dreierkonstellation, wird aus dem Reform-Martin ganz fix ein Beton-Martin. Grüne und Linke sind dann schnell das fünfte Rad am wieder halbwegs flotten SPD-Wagen. Bei essenziellen Themen ist nicht in Ansätzen erkennbar, was R2G will: ich meine besonders die Steuerpolitik, wo man über das – korrekte – Anheben des Spitzensteuersatzes hinaus bisher nichts erkennen kann. Wie steht es aber mit der Entlastung der „hart arbeitenden“ Menschen? Wie steht es mit den Menschen, die nicht hart arbeiten können, weil sie schlicht keine haben? Wie sieht die Digitalisierungspolitik aus? Da ist die SPD mit ihrem Lobbycluster rund um D64 noch um einiges naiver als CDU und Grüne. Ich finde, die inhaltlichen Fragen sind ziemlich schwach beleuchtet, seit Sankt Martin die Demoskopie in Bewegung gesetzt hat. Seitdem zählt nur noch Prozentrechnen, aber keiner fragt: wozu eigentlich? Selbst ein bekennender Inhaltist wie Wolfgang Michal ist plötzlich ein Mathegenie. 😉

  3. Lieber Christian Füller, Sie haben völlig Recht, wenn Sie sagen, die eigentlich spannende Frage wäre die nach einem Reformprogramm von R2G. Nur: Würde die SPD diese Koalition offen anstreben und damit einen Lagerwahlkampf riskieren, wäre es wohl schnell vorbei mit der (stark medienvermittelten) Martin-Euphorie. Erst dann würde man sehen, was wirklich dran ist am Martin-Hype. Davor fürchtet sich die SPD, also wird sie die Frage nach der Koalition offen lassen und auch kein R2G-Reformprogramm präsentieren. Das „Institut Solidarische Moderne“ als Thinktank einer solchen Koalition existiert ja bereits seit vielen Jahren, ohne dass die SPD es je beachtet oder irgendwie gefördert hätte.

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