Wolfgang Michal
Umbrüche & Entwicklungen

620 Nebenkanzler! Wie die Süddeutsche Zeitung an der Demokratie verzweifelt

22. Oktober 2011, 22:44

„Die vom Bundesverfassungsgericht und dem Parlament erzwungene Beteiligung an den Entscheidungsprozessen in Sachen Euro nimmt der Exekutive das Gestaltungsprivileg“, schreibt die SZ in einem aufgeregten Leitartikel. Das heißt auf Deutsch: Die Volksvertreter und die Verfassungsrichter sind schuld, wenn die Euro-Rettung scheitert. Fahrlässiger kann man eigentlich kaum argumentieren.

Der Leitartikel in der Wochenendausgabe der Süddeutschen Zeitung („Im Kern der Krise“) wird hoffentlich noch für Debatten sorgen. Er stammt vom Chef des Außenpolitik-Ressorts, Stefan Kornelius, und mischt sich in die deutsche Innenpolitik ein. Das muss erlaubt sein! Doch Einmischung ist angesichts der Polemik, die der Außenpolitik-Chef da auf 200 Druckzeilen abzieht, äußerst höflich formuliert. Stefan Kornelius watscht die 620 deutschen Bundestagsabgeordneten dafür ab, dass sie sich erdreisten, in einer Frage, die den Bundeshaushalt um ein Mehrfaches übersteigt, mitreden und mitbestimmen zu wollen. Stefan Kornelius findet dieses Ansinnen der Volksvertreter anmaßend.

Es geht – wie könnte es anders sein – um die nochmalige Erhöhung des Kreditvolumens für schlecht wirtschaftende Banken und Euro-Staaten, vor allem aber um die gigantische Aufblähung (= Hebelung) des Rettungsschirms in die Billionen-Euro-Dimension. Die Amerikaner drängen seit Wochen auf eine „große Lösung“, und wenn die Amerikaner solchen Druck machen, fühlt sich Stefan Kornelius als Außenpolitiker natürlich zuständig.

Wo aber sieht er das Problem? In der Augen-zu-und-durch-Politik, die immer tollkühner wird? In der Gipfelgeheimdiplomatie? In den ominösen „Richtlinien“ des Rettungsschirms, deren Endfassung offenbar niemand wirklich kennt? Nein, er entdeckt das Problem in der lahmarschigen deutschen Demokratie. Er schreibt:

„Das Problem liegt vielmehr bei den Abgeordneten des Bundestags. Die haben der Exekutive Handschellen angelegt. Die Lust am Mitregieren ist bis in die Hinterbänke des Bundestags vorgedrungen. Die vom Bundesverfassungsgericht und dem Parlament erzwungene Beteiligung an den Entscheidungsprozessen in Sachen Euro nimmt der Exekutive das Gestaltungsprivileg.“

Soso. Da haben die Verfassungsrichter aus der Provinzstadt Karlsruhe und die Hinterbänkler des Bundestages die weltgewandte Regierung Merkel also verhaftet! Und folgen dabei nur dem Lustprinzip. Das riecht nach Staatsstreich. 620 Hinterbänkler ermächtigen sich der Regierung, obwohl sie nicht einmal ausreichend Englisch können:

„Das Parlament wird zur Nebenexekutive mit 620 Nebenkanzlern, von denen viele provinziell krähen, wenn ihnen ein Text auf Englisch vorgelegt wird.“

Ja, es ist eine Frechheit, dass diese Provinzler es nicht einmal schaffen, über Nacht einen Blankoscheck für ein oder zwei (oder x) Billionen Euro auszustellen. Dass sie sich weigern, den heiligen Schwüren zu trauen, man könne mit Wetten auf den Euro die Wetten gegen den Euro ganz sicher besiegen. Und dass sie – anders als die weltgewandten Außenpolitiker – nicht an das Jesus-Wunder glauben, der Europäische Rettungsschirm könne mit fünf gehebelten Broten alle hungrigen Bankenmäuler stopfen!

Nein, nach Stefan Kornelius sollen die Abgeordneten nur Ja und Amen sagen, und das einzige loslassen, was die abgehobene Euro-Politik von IWF, EZB und EU-Kommission noch an die deutschen Normalverbraucher bindet: das Recht und die verdammte Pflicht, auf Deutsch zu erfahren, was genau in dem Kaufvertrag steht, mit dem die 620 Provinzvolksvertreter für dumm verkauft werden sollen.

Update 24.10.: Die 620 Nebenkanzler der Süddeutschen Zeitung dürfen nun doch ihr Recht als Abgeordnete wahrnehmen. Darauf haben sich die Vorsitzenden der Bundestagsfraktionen bei einem Treffen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel verständigt. Laut Volker Kauder (CDU) habe die Frage der Hebelung des EFSF „auch wegen der öffentlichen Debatte in den vergangenen Tagen eine grundsätzliche Bedeutung bekommen“. 

Update 25.10.: Heribert Prantl stellt im heutigen Leitartikel („Euro-Demokratie“) die Ehre der Süddeutschen Zeitung wieder her: Nicht an den Abgeordneten scheitere Europa, sondern an den Ackermännern. Es gebe nicht zu viel, sondern zu wenig Demokratie in der EU. So ist es.

Update 25.10.: In welch misslicher Lage die Abgeordneten sind, schildert der finanzpolitische Sprecher der Grünen in einem Interview mit tagesschau.de. Der Abgeordnete weiß zwar nicht genau, worüber er abstimmt, er wird aber trotzdem mit Ja stimmen.

Update 28.10.: Zumindest ein bisschen Selbstbewusstsein zeigen die Abgeordneten noch – genauer gesagt 2 (in Worten: zwei). Zwei SPD-Abgeordnete verhinderten per Einstweiliger Verfügung, dass ein Oligarchengremium von 9 Leuten die erforderliche Bundestagsmitbestimmung simulieren darf.

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1 Kommentar

  1. Das Problem publizistischer Granden ist es doch, dass ohne ihre Nebelbomben es auffliegen könnte, wie sehr die euphemistisch ‚Eurorettung‘ genannte Veranstaltung nur dazu dient, unter Zeitgewinn möglichst viele Werte oligarchischer Provenienz noch zu retten, bevor es für die Masse endgültig den Niagara hinabgeht. Wer das anders sieht, ist ein unverbesserlicher Optimist …

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