Wolfgang Michal
Umbrüche & Entwicklungen

Der richtige Weg zum demokratischen Orient (II)

15. September 2011, 10:47

Warum sich amerikanische und europäische Strategie nicht vertragen. Eine vierteilige Serie zum Umbruch in Nordafrika und im Nahen Osten.

1. Der Barcelona-Prozess der EU

2. Das US-Konzept vom „Greater Middle East“

3. Der Krieg gegen Libyen

4. Die Zukunft der Region

2. Das US-Konzept vom Greater Middle East oder: Der gewaltsame Demokratisierungsversuch

Mit dem Beginn der zweiten Intifada der Palästinenser im Herbst 2000 und dem Terror-Anschlag auf das World Trade Center im September 2001 hatten sich die Hoffnungen auf eine friedliche Demokratisierung der Region vorerst erledigt.

Der Westen verfiel wieder in seine alte Cäsaren-Haltung: Und bist du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt. US-Präsident George W. Bush rief die Welt zum „Kampf gegen den Terror“, und viele westliche Regierungen (nicht: Bevölkerungen!) folgten. Die US-Regierung erfand einen Kriegsgrund gegen den Irak („Massenvernichtungswaffen“) und erklärte den Sturz Saddam Husseins zum Schlüssel für die Demokratisierung der gesamten Region.

Der „Regime-Change“ – seit vielen Jahren schon angestrebt und nun endlich in Reichweite – sollte mit militärischen Mitteln eingeleitet und abgesichert werden. Nur einige Skeptiker aus „Old Europe“ (Deutschland, Frankreich, Belgien) hielten trotzig an ihrem zivilen Auftrag fest.

Die Militärstrategie der USA schien (zunächst) tatsächlich effektiver zu sein als der auf Kooperation, Ausgleich und Entwicklung basierende Barcelona-Prozess. Bereits im Frühjahr 2003 waren Afghanistan und der Irak „befreit“. Jetzt stellte sich die Frage: Wie weiter? Wie sollte die Freiheit in der Region befestigt und ausgedehnt werden? Die Koalition der Willigen hatte ja nur einen ersten Pflock eingeschlagen, durch dessen „swing“ – so die Vorstellung der US-Regierung – alle weiteren Despoten umfallen würden wie Dominosteine. Aus Angst, dass es ihnen genau so ergehen könnte wie Saddam.

Dieses Brachial-Konzept bezeichnete US-Präsident George W. Bush in einer Ansprache vor der Stiftung National Endowment for Democracy (NED) am 6. November 2003 als „Vorwärtsstrategie der Freiheit“. Die Befreiung der Völker aller Kontinente sei die Mission Amerikas seit dem Ersten Weltkrieg:

„In the trenches of World War I, through a two-front war in the 1940s, the difficult battles of Korea and Vietnam, and in missions of rescue and liberation on nearly every continent, Americans have amply displayed our willingness to sacrifice for liberty… Our commitment to democracy is also tested in the Middle East, which is my focus today, and must be a focus of American policy for decades (!) to come. In many nations of the Middle East — countries of great strategic importance — democracy has not yet taken root. And the questions arise: Are the peoples of the Middle East somehow beyond the reach of liberty? Are millions of men and women and children condemned by history or culture to live in despotism? Are they alone never to know freedom, and never even to have a choice in the matter? I, for one, do not believe it. I believe every person has the ability and the right to be free.“

In seiner vielbeachteten Rede kündigte George W. Bush aber nicht nur die Fortsetzung der Reaganschen Ostpolitik an, er annoncierte auch einen jahrzehntelangen amerikanischen Opfergang für die Demokratie im Nahen Osten (= Heiliger Krieg). Eine von außen kommende Initiative in Gestalt der US-Marines sollte also die Einführung der Demokratie in den islamischen Ländern erleichtern (wobei Bush die Golfmonarchien, Saudi-Arabien und Marokko offenbar ausklammerte).

Anfang 2004 erreichte das missionarische Konzept vom „Opfergang für die Freiheit“ auch Europa. Bei der Münchner Sicherheitskonferenz (bei welcher Außenminister Joschka Fischer ein Jahr zuvor noch sein „I am not convinced!“ in Richtung der Irak-Kriegs-Befürworter gekrächzt hatte), brachten die US-Vertreter die renitenten Europäer auf Linie. US-Senator Richard Lugar, Vorsitzender des Senats-Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten, referierte zum Thema „NATO and the Greater Middle East“: Die Demokratisierung des Orients sollte ein Gemeinschaftsprojekt der NATO werden. Denn nur eine gut bewaffnete Wertegemeinschaft sei in der Lage, diesen „Großraum“ dauerhaft zu „stabilisieren“.

Das NATO-Konzept bot der US-Regierung zwei entscheidende Vorteile: Erstens hatte die NATO auf diese Weise wieder eine wichtige Aufgabe, und zweitens konnten die – aus unterschiedlichen Gründen – so skeptischen NATO-Mitglieder Deutschland und Frankreich nun politisch und finanziell (ein)gebunden werden. Denn gewaltsame „Demokratisierung“ ist ein kostspieliges Unterfangen, wie man heute an den vielen Milliarden Dollar ablesen kann, die in die Region fließen müssen (z.B. zur Finanzierung korrupter Eliten).

Als Alternative zum Barcelona-Prozess der EU implementierte die US-Regierung auch gleich ein eigenes Zivil-Programm, die Middle East Partnership Initiative (MEPI), die nach offizieller Lesart besonders den Frauen und Jugendlichen in der Region zugute kommen sollte. Und wie schon beim Barcelona-Prozess existieren auch hier drei thematische „Körbe“: 1. die Förderung der Demokratie (= Good Governance), 2. der Aufbau einer Wissensgesellschaft und 3. der Ausbau der ökonomischen Potenziale. Das Programm wurde mit 129 Millionen Dollar ausgestattet und war damit wesentlich großzügiger dotiert als die „Mittelmeerunion“ der EU. Auch handelten die USA ohne jeden Zeitverzug. Bereits im Herbst 2004 konnte das erste regionale Verbindungsbüro der Partnerschafts-Initiative in Tunis eröffnet werden. Die USA waren damit lange vor der Revolution am richtigen Ort.

Die EU-Strategen sahen zu und taten – nichts. Sie ließen sogar zu, dass durch die Verknüpfung des Barcelona-Prozesses mit der US-Strategie zur „Befreiung der Völker“ das zarte Pflänzchen einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik nachhaltig beschädigt wurde – wie sich im Libyen-Krieg sieben Jahre später herausstellen sollte. Frankreich, die Grande Nation, warf aus Selbstüberschätzung (und vielleicht auch wegen der möglichen US-Konkurrenz im traditionell französischen Einflussgebiet Nordafrika) die EU-Barcelona-Prinzipien über Bord, und wagte den Alleingang. Und Deutschland? Die deutsche Regierung zögerte zunächst, und hielt sich dann aus allem heraus. In der Libyen-Krise spielte die EU als Gemeinschaft keine tragende Rolle mehr. Sie überließ die Politik wieder den traditionellen „Großmächten“ des 19. und 20. Jahrhunderts.

Die nächsten Folgen:

3. Der Krieg gegen Libyen oder: Verfällt Europa einem neuen Kolonialismus?

4. Die Zukunft der Region. Warum Europa zum Barcelona-Prozess zurückkehren sollte

Bisher erschienen:

1. Der Barcelona-Prozess der EU oder: Der friedliche Demokratisierungsversuch

Wenn Ihnen dieser Artikel gefallen hat, können Sie mich durch eine Spende unterstützen.

Umbrüche & Entwicklungen sagt Danke!

2 Kommentare

  1. danke für diesen informativen überblick zu einem wie ich finde undurchsichtigen thema!
    mir ist aufgefallen, dass die erste basis der MEPI zielgenau in dem land installiert wurde, in dem später die umwälzungen losbrachen.
    halten sie das für einen zufall?
    ich denke: nein. sämtliche us-regierungen jeder parteizugehörigkeit haben sich immer wieder und sehr erfolgreich durch massive einflussnahme in die angelegenheiten souveräner länder eingemischt und nur im äussersten ’notfall‘ so direkt – wie im irak – durch offensichtliche lügen die öffentliche legitimation gesucht.
    also: warum sollte es hier anders sein?
    fragt man nach den motiven, wieso der greater middle-east von so grossem strategischen wert für die usa sein sollte, drängen sich mindestens zwei offenkundige antworten auf:
    zum einen sind einige der ölreichsten staaten in dieser region versammelt und demokratien halten im vergleich zu despotien eher und dauerhafter ruhig, wenn man ihnen das öl unter dem arsch wegklaut,
    und zum anderen ist die strategisch-militärische nähe zu dem einen lieblingsfeind iran geschaffen, der noch dazu den lieblingsstatthalter israel bedroht. ähnliches gilt für die region pakistan/afghanistan und den zweiten lieblingfeind nordkorea.
    und all das liesse sich noch durch weitere aspekte ergänzen. oder nicht?

    über ihre position dazu wäre ich ihnen dankbar.
    horst bockelmann

  2. Öl spielt natürlich eine Haupt-Rolle. Außerdem eine (inzwischen veraltete) Geostrategie, siehe etwa Zbigniew Brzezinskis noch immer lesenswerte Studie „Die einzige Weltmacht“.

    Im Grunde stehen sich hier zwei unterschiedliche Politikmodelle gegenüber (das modernere der EU und das ältere der USA). Öffentlich wird jedoch so getan, als ließen sich die beiden miteinander vereinen. Mehr dazu in Teil IV.

Weitere Artikel über Politik:

Wer steckt hinter dem #Strachevideo?

Noch immer fehlt ein Bekennerschreiben. Und Spiegel und SZ verraten ihre Quelle nicht. Also schießen die Spekulationen ins Kraut. Am Ende könnte die Geheimniskrämerei den Rechtspopulisten mehr nützen als schaden.

EU-Urheberrechts­reform: Zensur ist nicht der Zweck

Nicht die Zensur von Inhalten, sondern die Pflicht zur Lizenzierung ist der Kern der EU-Urheberrechtsreform: Handlungen sollen nicht verhindert, sondern zu Geld gemacht werden.

„Zensur ist, wenn du unterdrückst, was ich gut finde“

Wer Meinungsfreiheit gewährleisten und Zensur verhindern will, muss Medien und soziale Netzwerke demokratisieren. Das zeigt ein Blick in die Entwicklungsgeschichte der Zensur.