Wolfgang Michal
Umbrüche & Entwicklungen

Rückkehr zur Klassengesellschaft

31. Mai 2011, 17:00

Für viele war die Wahl in Bremen ziemlich langweilig. Doch in Wahrheit zeigt das Ergebnis die Verschärfung eines unheilvollen Trends.

Bremen, das ist für manche so eine Art Westjordanland in Niedersachsen – mit Bremerhaven als Gazastreifen. Bremen, das ist das Land, das sich selbst als „Dünenrandgebiet“ marginalisiert, und in dem der höchste Berg eine Mülldeponie ist.

In Bremen regiert die SPD seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Dort haben sich die Grünen 1979 (noch vor ihrer offiziellen Gründung) das erste Mal in einem Parlament etabliert.

In Bremen leben die Bremer einfach wahnsinnig gern, denn sie verfügen häufig über ein eigenes Häuschen und haben ausgesprochenes Glück mit ihren Bürgermeistern.

Bremen ist aber auch das Bundesland mit der höchsten Verschuldung. Ein Haushaltsnotlageland. Unser Griechenland. Doch für alle, die sich jetzt über derart unzulässige Vergleiche aufregen mögen, sei schon mal gesagt: Bremen ist weder Griechenland noch Palästinensergebiet, Bremen ist einfach Bremen.

Und Bremen ist Vorreiter. Hier fällt die Wahlbeteiligung seit Ende der siebziger Jahre drastisch ab. Wählten vor 30 Jahren fast 80 Prozent aller Berechtigten, so waren es im Mai 2011 nur noch 55,9 Prozent.

Während die Gesellschaft auseinanderfällt, rücken die Parteien zusammen

Ich habe mir deshalb die Statistiken der Stadt Bremen (ohne Bremerhaven) etwas näher angesehen:

1. Die Wahlbeteiligung klafft extrem auseinander. Während sie in den ländlichen, gut situierten, bürgerlichen Stadtteilen, wo die Menschen über ein hohes Jahreseinkommen verfügen, bei fast 80 Prozent liegt, fällt sie in den Stadtteilen mit einem hohen Anteil an Arbeitslosen, Hartz-IV-Empfängern und Menschen mit Migrationshintergrund drastisch ab, auf Werte knapp über 40 Prozent. Stärker noch als in Hamburg (wo im vergangenen Februar gewählt wurde) zeigt sich in Bremen ein klassenspezifisches Verhalten bei der Wahrnehmung des Wahlrechts. Ging die Schere in Hamburg um 25 Prozent auseinander, so lag der Abstand in Bremen schon bei 35 Prozent.

2. Extrem hohe Arbeitslosenraten (z.B. in den hafennahen Arbeiter-Stadtteilen Gröpelingen und Ohlenhof) gehen einher mit einem hohen Anteil an Migranten (über 40 Prozent) und einem extrem geringen Anteil an Gymnasiasten bei den Schulkindern (knapp 18 Prozent). In solchen „sozialen Brennpunkten“ liegt die Wahlbeteiligung bei 42 Prozent. In Stadtteilen mit einem hohen Anteil an Gymnasiasten dagegen (Bürgerpark: 86 Prozent, Borgfeld: 73 Prozent) pendeln die Arbeitslosenquoten zwischen 3,6 und 6 Prozent, und die Wahlbeteiligung liegt weit jenseits der 70 Prozent.

3. Die Hochburgen der Grünen finden sich einerseits in den besseren Vierteln am Rande der Stadt, andererseits in den City-nahen Bezirken, die eine kulturell lebendige Szene aufweisen. Das heißt, die Grünen vereinen zunehmend zwei (rein altersmäßig) unterschiedliche Milieus: die Bürger-Grünen und die Links-Alternativ-Grünen. In den (bei Studenten) besonders beliebten Stadt-Quartieren (Steintor, Ostertor, Fesenfeld) erreichen sie heute Werte zwischen 42 und 45 Prozent und verdrängen die CDU praktisch von der Bildfläche (Steintor: 7,7 Prozent, Fesenfeld: 9,9 Prozent für die CDU).

4. Wirklich punkten kann die CDU nur in den dünn besiedelten, landwirtschaftlich geprägten, naturnahen Außenbezirken (Blockland, Strom) sowie in einigen sozial weitgehend homogenen Bürger-Vierteln (Bürgerpark, Borgfeld, Radio Bremen, Horn, Oberneuland). Die SPD bleibt dagegen relativ stark in ihren Traditions-Milieus (Neue Vahr, hafennahe Arbeiterviertel: über 50 Prozent). Schwach ist sie in der City, wo sie sich in jahrelangen innerparteilichen Kämpfen um die richtige Kommunalpolitik selbst zerlegt hat. Hier finden sich – als Spätfolge – die Hochburgen der Grünen und Linken.

5. In den Problemvierteln erreichen weder die Linken noch die Alternativ-Grünen herausragende Ergebnisse. Während die Parteienlandschaft sozial also immer einheitlicher wird, spreizt sich die Gesellschaft immer weiter auf. Sollte die alte Tante SPD eines Tages auch in den „sozialen Brennpunkten“ verschwinden, wäre das Tor sperrangelweit offen für Wutbürger und Rechtspopulisten aller Art.

6. Die Resignation der Armen und schlecht Ausgebildeten einerseits, der Rückzug der Parteien auf ganz bestimmte (sympathische) Wählerinseln andererseits wird den Trend zum Gesellschaftszerfall, der in vielen Wahlergebnissen sichtbar wird, weiter verstärken. Doch weder die Fernsehanstalten noch die Politiker nehmen diese gefährliche Entwicklung unter die Lupe – da sie nach Schließung der Wahllokale alle Hände voll damit zu tun haben, den Wählern zu danken, die Ergebnisse für ihr eigenes Fortkommen richtig zu interpretieren und überflüssige Koalitions- und Rücktrittsfragespielchen zu spielen.

Drei Tage nach der Wahl ist die Wahl dann wieder vergessen.

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2 Kommentare

  1. Interessante Analyse. Das sollte für alle Wahlen gemacht werden. Die Prozentzahlen allein haben doch insgesamt wenig Aussagekraft.
    Die Entwicklung ist sehr bedenklich. Mögliche Endpunkte: In Problemvierteln wird (fast) nicht mehr gewählte (Wahlbeteiligung sinkt auf nahezu 0%), oder aber in Problemvierteln werden Splitterparteien gewählt, die u.U. antidemokratisch sind (insbesondere rechtes Spektrum).
    Und die „großen Volksparteien“ haben es noch nicht einmal bemerkt.

  2. Zur Hamburg-Wahl habe ich eine solche Analyse gemacht. Siehe Link im Text.

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