Wolfgang Michal
Umbrüche & Entwicklungen

Ein vereintes Europa kann nur durch einen revolutionären Akt entstehen

26. Oktober 2011, 11:55

Es gibt zwei Wege für Europa: die zwangsweise Vereinigung von oben oder die demokratische Übereinkunft von unten. Weg 1 ist gefährlich, Weg 2 erfordert Zeit und Mut.

Die Institutionen der EU waren ja nie besonders demokratisch legitimiert. Das Europäische Parlament ist den Bürgern als Volksvertretung fremd geblieben. Es macht auch in der jetzigen Krise kaum einen Mucks. Die großen europäischen Entscheidungen wurden und werden über die Köpfe der Bevölkerungen hinweg von kleinen Gremien und ihren Experten getroffen. Doch jetzt gerät das autoritäre Politik-Modell erstmals an die „Systemgrenze“ und steht vor der Frage: Weiterwursteln wie bisher (mit dem Risiko des Scheiterns) oder neu beginnen.

Die Gremien der EU haben sich für das Weiterwursteln entschieden. Die Europäische Kommission und der Europäische Rat glauben allen Ernstes, sie könnten die „Vertiefung“ Europas so lange durch Gipfelkompromisse, Vertragsänderungen und Brüsseler Detail-Vorgaben vorantreiben, bis der Turning Point zum vereinten Europa tatsächlich erreicht und überschritten wird. In diesem illusionären Denken ist eine Politikergeneration gefangen, die glaubt, dass eine kompetente Elite durch „systemüberwindende“ Reformen eine Revolution erzeugen kann. Denn eins ist klar: Die Transformation des gegenwärtigen Staatenbundes in einen Bundesstaat wäre tatsächlich eine Revolution.

Lässt sich Europa erzwingen?

Viele Europapolitiker, die noch aus der Nachkriegsgeneration stammen und sich aufgrund ihres jahrzehntelangen Engagements für die rechtmäßigen Europäer halten, betrachten Europa als ihr ureigenes Elitenprojekt, das durch rationale Entscheidungen „integriert“ werden kann. Erst die Einführung des Euro (ohne Volksentscheid) und die durch die gemeinsame Währung ausgelöste Anpassungs-Krise haben diesem Denken eine so harte Nuss beschert, dass sie nicht mehr mit den herkömmlichen Mitteln zu knacken ist. Jetzt sehen wir: Die da oben können nicht mehr, und die da unten wollen nicht mehr.

In ihrer Verzweiflung versuchen die Gipfelkonferenzen-Europäer nun, den notwendigen Souveränitätsverzicht der europäischen Staaten durch Sanktionen und finanziellen Druck zu erzwingen. Auch ein „Stabilitätskommissar“ ist im Gespräch, der in die nationalen Haushalte eingreifen soll. Die Elite-Europäer vergessen dabei, dass dieses Prozedere schon bei der Gemeinsamen Außenpolitik (GASP) versagt. Es reicht einfach nicht, immer neue Gremien, Verfahrensweisen und Pöstchen zu schaffen, ohne für den nötigen Unterbau zu sorgen. Die GASP ist zur Lachnummer verkommen, denn nach wie vor bestimmen die unterschiedlichen nationalen Außenpolitiken das Feld – sogar stärker als vor zehn Jahren. Aus diesem Desaster ziehen die Elitepolitiker, die Europa von oben her einigen wollen, aber keine Konsequenzen. Sie rennen weiter mit dem Kopf gegen die Wand, weil sie hoffen, die nationalen Mauern werden eines Tages schon daran zerbrechen.

Jetzt aber gibt es eine neue Situation. Das Ausmaß der Finanz-Krise zwingt die Elite-Europäer dazu, ihr autoritäres Politik-Modell, das sich 40 Jahre lang mehr oder weniger ungestört im Windschatten des Ost-West-Konflikts entwickeln konnte, aus der Nettigkeit der europäischen Sonntagsreden zu befreien und ehrlich zu sagen, wie sie sich die Beseitigung der nationalen Souveränitäten praktisch vorstellen.

Beseitigung heißt nämlich nichts anderes als Zwang (oder Gewalt). Und für solche „Reichseinigungen“ gibt es ein historisches Muster. Bismarcks Reichseinigung unter Preußens Führung basierte auf Eisen und Blut – und der Entmachtung des Parlaments. Bismarck hat die deutsche Politik damit auf Jahrzehnte verheert, aber das Reich und dessen ersehnte Wettbewerbsfähigkeit gewonnen.

Wer die Einigung Europas von oben erzwingen will, muss diesen Weg einschlagen. Er muss sich aber auch über die Folgen im Klaren sein: Nationale Aufwallungen und soziale Verwerfungen würden dazu führen, dass die Zentralgewalt Aufstände und Unruhen niederschlagen und Widerstand und Sabotage brechen müsste. Es gäbe nicht nur eine IRA zu bekämpfen, sondern deren 20. Und die Freiheits- und Grundrechte in einem herbei gezwungenen Europa wären deutlich eingeschränkt.

Die Alternative: Eine demokratische Revolution

Die Alternative zu diesem brachialen Zwangskonzept wäre ein politischer Neuansatz, getragen von jenen, die sich längst als Europäer verstehen und keine Probleme damit haben, in einem gemeinsamen europäischen Staat zu leben. Dieser Neuansatz erfordert allerdings Mut und einen langen Vorlauf: Erstes Etappenziel wäre eine Verfassunggebende Versammlung, die – im Verlauf einer Legislaturperiode – eine europäische Verfassung ausarbeiten müsste, die den Europäern zur Abstimmung vorgelegt werden kann. Ob es zur Erreichung dieses Etappenziels eines Ballhausschwurs des Europäischen Parlaments bedarf oder ob die Zusammensetzung des Verfassungskonvents durch nationale Delegierten-Wahlen entschieden wird, sei dahingestellt. Schwierig genug ist die Einrichtung eines solchen Konvents angesichts (wieder) wachsender nationaler Vorurteile und einer daraus resultierenden anti-europäischen Stimmung ohnehin.

Anders als der „Europäische Verfassungskonvent“, der 2002 von den nationalen Regierungen einberufen wurde, wäre eine wahrhaft Verfassunggebende Versammlung aber unabhängig von Regierungs-Vorgaben. Das heißt: Ein echter Verfassungskonvent müsste sich nach dem Prinzip der (europäischen) Volkssouveränität konstituieren.

Die von diesem Konvent erarbeitete Verfassung würde dann dem europäischen Unionsvolk zur Abstimmung vorgelegt. Wird sie mit großer Mehrheit angenommen, wäre dies der Schlusspunkt eines revolutionären Aktes, der gleichzeitig die nationalen Verfassungen außer Kraft setzt (wie im deutschen Grundgesetz bereits in Artikel 146 geregelt). Dieser Punkt ist entscheidend. Eine Blockierung durch nationale Verfassungsgerichte wäre dann nicht mehr möglich. Die historische Zäsur, die mit der Annahme einer europäischen Verfassung verbunden ist, würde den Europäern so tief ins Bewusstsein dringen wie den Franzosen die Französische Revolution.

Wo bleiben die Akteure?

Beide Varianten, die autoritäre wie die demokratische, stehen derzeit nicht auf der Tagesordnung. Sie gehen aber davon aus, dass die europäische Einigung mit den bisherigen Mitteln nicht weiter „vertieft“ werden kann. Mit dem ersehnten „Durchgriff“ auf die nationalen Haushalte stoßen die EU-Gremien an die „Systemgrenze“. Solche Eingriffe kann sich kein Nationalstaat gefallen lassen. Entweder die gemeinsame Währung zerfällt und die EU begnügt sich wieder mit der Existenz eines europäischen Zollvereins oder man geht einen der beiden oben beschriebenen Wege. Denn der Übergang zu den Vereinigten Staaten von Europa erfordert einen Qualitätssprung, der über Reparaturmaßnahmen und Reformen weit hinaus reicht.

Um den demokratischen Weg gehen zu können, bräuchte es eine neue Generation von europabegeisterten Politikern. Vielleicht existieren sie bereits in den Weiten der europäischen Kleinstaaterei, doch sie geben sich bislang nicht zu erkennen. Möglicherweise sind sie noch zu sehr beschäftigt mit kleinen Reaktionen auf große Krisen.

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