Wolfgang Michal
Umbrüche & Entwicklungen

Die Europäer sollten dem Beispiel Papandreous folgen

1. November 2011, 23:07

Die Wiege Europas darf nicht zum Sterbebett werden. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, ein europäisches Referendum einzuleiten. Denn eine von der EU-Bevölkerung angenommene Verfassung würde Europa die nötige Legitimation verschaffen. Eine Legitimation für alle Fälle.

Papandreous mutiger Schritt ist ein Befreiungs-Signal: Die Griechen können nun selbst darüber entscheiden, ob sie sich in die babylonische Gefangenschaft der Finanzmärkte begeben wollen oder nicht. Der mediale Druck auf sie wird in den nächsten Monaten gewaltig sein, und die Last der Verantwortung, die auf jedem einzelnen Wähler liegt, wird für schlaflose Nächte und lautstarke Debatten in den Familien, in den Gaststätten und an den (noch vorhandenen) Arbeitsplätzen sorgen – aber genau das ist jetzt notwendig: die Griechen entscheiden. Es liegt in ihrer Verantwortung. Das ist Demokratie.

Papandreous mutiger Schritt ist aber auch ein Alarm-Signal: Was könnte passieren, wenn die Abstimmung in dieser eh schon aufgeheizten Atmosphäre äußerst knapp ausfällt? Wenn 51 Prozent für die Ablehnung (oder die Annahme) des Sparpakets und der EU-„Rettungs“-Maßnahmen votieren. Und 49 Prozent dagegen. Kommt es dann zum Zerfall der griechischen Gesellschaft? Zum Bürgerkrieg? Muss die Armee eingreifen? Putschen, wie 1967, rechte Obristen? Dann wäre die – demokratisch nur unzureichend legitimierte – EU erstmals in ihrer Geschichte gezwungen, ein Mitgliedsland gewaltsam zu „befrieden“: mit Hilfe der NATO, der UNO oder einer deutsch-französischen Koalition der Willigen. Die Folgen für die innere Liberalität der europäischen Zivilgesellschaften wären verheerend.

Deshalb kann es nach dem mutigen Schritt Papandreous nur einen sinnvollen Weg für Europa geben: den nach vorn. Die EU muss ihrerseits ein Referendum über ihre Politik abhalten. Sie muss die Bürger fragen, ob sie mit dem bisherigen Krisen-Gewurschtel einverstanden sind oder ob sie eine gemeinsame Verfassung wünschen, die auf eine klare Föderation abzielt, in der es eine gemeinsame Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitik gibt, und eine Zentralbank, die notfalls Geld drucken kann, und ein Parlament, das eine Regierung wählt und wirksam kontrolliert.

Papandreou hat mit seiner Entscheidung Europas entsetzte Elitepolitiker unter Zugzwang gesetzt. Und das ist gut so. Denn die Dinge spitzen sich zu. Papandreous Vorschlag könnte das ersehnte Licht am Ende des Tunnels sein.

Update 3.11.: Unter dem Druck der EU und der eigenen Genossen hat Papandreou heute Nachmittag auf das angekündigte Referendum wieder verzichtet. Offensichtlich war das Licht am Ende des Tunnels nur eine Sinnestäuschung. Die Postdemokratie lebt…

Update 3.11., 18.30 Uhr: Der Referendums-Vorschlag war offensichtlich nur ein Bluff, um die Oppositionspartei in die Regierung zu zwingen. Sollte das stimmen (und nicht bloß das chaotische Hin und Her nachträglich zur ausgekochten Strategie verklären), kann man den Umgang mit dem griechischen Volk nur noch als zynisch bezeichnen. 

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