Wolfgang Michal
Umbrüche & Entwicklungen

Der Tugendterror der Empörten

15. Oktober 2012, 10:38

Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo fordert: Schluss mit der Skandalisierung von kleinen Politiker-Fehlern. Medien, Andersdenkende und „Empörte im Netz“ würden sich zu einer unerträglichen Moralinstanz aufschwingen.

Überschrieben ist Giovanni di Lorenzos Leitartikel mit einem einzigen Wort: „Tugendterror“. Unterzeile: „So wie Fehler von Politikern inzwischen skandalisiert werden, kann am Ende jeder fertiggemacht werden.“

Di Lorenzo meint aber gar nicht Annette Schavan (sie ist nur die nächste, die ins Visier „der Empörten“ gerät), er meint Peer Steinbrück und die Art, wie man seine hohen Nebeneinkünfte als Abgeordneter öffentlich herabwürdigt. Di Lorenzo schreibt am Anfang seines Beitrags:

„Wer als Kandidat einer Partei in den Wahlkampf zieht, die endlich die Finanzbranche zähmen will, macht sich natürlich angreifbar, wenn er sich von Vertretern dieser Zunft für gut bezahlte Vorträge engagieren lässt.“

Leider verfolgt Giovanni di Lorenzo diesen Gedanken aber nicht weiter, sondern wendet sich einem viel wichtigeren Thema zu: der elenden Sucht der Öffentlichkeit, Verantwortungsträgern ständig in die Suppe zu spucken. Das, was sich die Politiker heute leisten würden, sagt di Lorenzo, seien doch nur Peanuts im Vergleich zu dem, was sich Politiker früher geleistet hätten. An den moralischen Maßstäben von heute gemessen hätte die politische Klasse von damals keine Chance gehabt, im Amt zu bleiben (ich habe das in der Affäre Wulff ganz ähnlich gesehen).

Di Lorenzo kommt zu dem Schluss, dass sich die Öffentlichkeit zu einer Art moralischem Standgericht aufschwinge:

Virtuelle Gerichte – ein Dreigestirn aus Medien, politischen Gegnern und Empörten im Netz – bekommen so eine Macht über Politiker, die zunehmend den Souverän entmündigt: Letztlich ist es doch der Wähler, der entscheiden soll, ob ihn nach einem langen Wahlkampf Peer Steinbrück oder Angela Merkel überzeugt. Und ob dabei auch die Frage eine Rolle spielt, unter welchen Umständen Politiker Nebeneinkünfte erzielen. Alles andere ist nicht Tugend, sondern Terror.“

Das heißt: Die Frage der Nebentätigkeit eines Abgeordneten könne lediglich ein Unterpunkt sein bei der Gesamt-Beurteilung der Eignung zum Kanzlerkandidaten. Angela Merkel hätte gesagt: Ich habe den Guttenberg ja nicht als wissenschaftlichen Assistenten eingestellt, sondern als Verteidigungsminister.

Richtig an di Lorenzos Klage über den „Tugendterror“ ist, dass die Gewichtung bei der Beurteilung vieler Sachverhalte und Verfehlungen oft nicht mehr stimmt. Kleinigkeiten werden zu Schlagzeilen aufgeblasen, Wichtiges kommt unter Ferner liefen. Doch „die Empörten im Netz“ reagieren in erster Linie auf das, was ihnen der Journalismus vorgibt, und die Journalisten ihrerseits schielen auch auf das, was „die Empörten im Netz“ in Wallung bringt. Durch die gegenseitige Verstärkung und „Aufwiegelung“ wird die Einordnung des Geschehens zur Nebensache, der Hype wird zur Hysterie. „Tiefer hängen“ ist dann keine akzeptable Kategorie mehr, denn wer mitten in der schönsten Aufregung bagatellisiert, macht sich zum Spielverderber.

Wen also klagt di Lorenzo an? Die Medien, zu denen er gehört, funktionieren heute eher wie Talkshows. Wichtiges und Unwichtiges fließen ineinander, und der entstehende, stets liebevoll servierte Desinformationsbrei (der „Lanzismus“) formt das Weltbild des Publikums. Die Boulevardisierung von bild.de und Spiegel Online, von Talkshows und Homestorys hat längst auch die seriöse Presse erfasst: Nicht nur die Seite 1 vieler Qualitätsblätter sieht heute ganz anders aus als vor 30 Jahren; Qualitätszeitungen orientieren sich ebenso häufig an den populistischen Wellen, die von den schnelleren Online-Medien und ihrem stilbildenden Star-System erzeugt werden. Bernhard Pörksen und Hanne Detel haben das in ihrem Buch „Der entfesselte Skandal. Das Ende der Kontrolle im digitalen Zeitalter“ plastisch beschrieben. Nur hätte der Untertitel ihres Buches lauten müssen: Das Ende der Kontrolle durch einige wenige im digitalen Zeitalter.

Der Vorteil und auch der Nachteil der digitalen Demokratisierung ist, dass nun alles hochgespielt werden kann: alles, was die Leute aufregt, interessiert, fasziniert oder neugierig macht. Diese Aufregerwellen ändern aber rein gar nichts an den Entscheidungsstrukturen. Alles funktioniert weiter wie vorher. Insofern ist die Gleichsetzung des verbalen „Tugendterrors“, der angeblich von den Medien und den „Empörten im Netz“ auf die „Verantwortungsträger“ ausgeübt wird, mit dem realen Tugendterror des Wohlfahrtsausschusses der Jakobiner deplatziert. Der reale Wohlfahrtsausschuss (auf den das Wort vom Tugendterror zurückgeht) war ein Exekutivorgan mit unbeschränkten Vollmachten. Er war die Guillotine der Französischen Revolution und konnte Politiker wegen echter oder vermeintlicher Verfehlungen aufs Schafott schicken.

Die Verwendung des Wortes Tugendterror für die verbale Empörung im Netz und anderswo ist nichts anderes als das, was Giovanni di Lorenzo lauthals beklagt: Er macht Stimmung gegen die boulevard-typische Übertreibung mit Hilfe einer boulevard-typischen Übertreibung, er argumentiert gegen den Populismus mit Hilfe populistischer Methoden.

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2 Kommentare

  1. Klar macht er das was er lauthals beklagt, aber ob im betreffenden Blatt etwas ändern wird wage ich zu bezweifeln 😉

  2. Herr di Lorenzo ist (für mich) spätestens seit seiner Guttenberg-Ranschmeiße als ernstzunehmender Journalist gestorben.

    Sein altersbleiches, elegisch gelocktes Talkshow-Gesäusel, mit er im NDR (?) das reifere (weibliche) Publikum erfreut, hat wenigstens noch den Vorteil, sich schnell und rückstandsfrei zu verflüchtigen – will heißen binnen dreier Sekunden.

    Seine Texte dürften kaum länger in Erinnerung bleiben. Sie zeigen (zumindest für mich) nur eins: daß er schon viel zu lange mit den vermeintlich Schönen und Mächtigen am Tischchen sitzt, Händchen hält und sich (gerne bei Häppchen und Prosecco) selbstgefällig in deren Glanz spiegelt.

    Der Mann ist die Fortsetzung des „Lanzismus“ – für pensionierte Oberstudienräte, versprengte „Bildungsbürger“ und gelangweilte „Arztgattinnen“.

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