Wolfgang Michal
Umbrüche & Entwicklungen

Joachim Gaucks einäugiger Blick auf Europa

7. März 2013, 12:09

Mit seiner „ersten großen Rede“ wollte der Bundespräsident vor allem begeistern. Leider hat er die Grundlagen der europäischen Idee dabei nur halbherzig erwähnt. Für ihn beginnt Europa mit Churchills Realpolitik, nicht mit dem Geist der Résistance.

In seiner ersten großen Rede als Bundespräsident der Herzen klagte Joachim Gauck, es fehle der EU ein überzeugender „Gründungsmythos“, neuhochdeutsch: eine wirkmächtige „Erzählung“. Viele Historiker (auch Joachim Gauck) verweisen dann ersatzweise gern auf jene berühmte Rede, die Winston Churchill am 19. September 1946 vor Studenten der Universität Zürich gehalten hat. Die „Erzählung“ dieser Rede (also ihr Sinn und Zweck) war die Eindämmung der Sowjetunion und die Verhinderung eines drohenden Atomkriegs. Das waren die Gründe, warum Churchill 1946 die sofortige Bildung der „Vereinigten Staaten von Europa“ verlangte:

„Wenn wir die Vereinigten Staaten von Europa bilden wollen, so müssen wir es jetzt tun.“

In der unmittelbaren Nachkriegszeit existierte aber eine zweite, nicht weniger interessante „Erzählung“ von Europa, die im Kalten Krieg leider unterging. Sie besagt, dass die Idee der europäischen Einigung nicht erst aus der Angst vor der Sowjetunion, sondern schon aus dem Kampfgeist des antifaschistischen Widerstands hervorging. Vor allem italienische, französische, niederländische und Schweizer Föderalisten hatten die europäische Idee im Kampf gegen Hitler salonfähig gemacht.

„Europa bauen aus dem Geist des Widerstands“ – das war 1940/41 die (von Joachim Gauck jetzt) so schmerzlich vermisste Lösung der ewigen Rätselfrage: Wie kann dieser Kontinent in den Herzen der Menschen verankert werden? Mit Brüssel und seiner Bürokratie scheint das nicht zu gelingen. Aber auch nicht damit, dass man – wie Joachim Gauck – die europäische Idee erst mit Jean Monnet 1950 oder mit Churchills Rede von 1946 beginnen lässt.

Es gibt immer zwei „Erzählungen“

Seit den achtziger Jahren, als viele Intellektuelle den „Kontinent Europa“ euphorisch wiederentdeckten (z.B. Hans Magnus Enzensberger mit seinem 1987 erschienenen Buch „Ach, Europa!“), suchten die Eliten sehnsüchtig nach dem moralischen Kitt, der das europäische Haus im Innersten zusammenhält. Bei dieser Suche waren nüchterne Historiker wie Robert Bartlett, der „die Geburt Europas aus dem Geist der Gewalt“ erklärte, weniger gefragt als „glühenden Idealisten“, die Schlagbäume einreißen konnten (Helmut Kohl!). Besonders nach dem Fall der Mauer war Europa als moralische Idee wieder virulent. Fast so wie in der Endphase des Zweiten Weltkriegs.

Frank Niess, ein begeisterter Europäer, zitiert denn auch in seiner kleinen, leider kaum beachteten Schrift „Die europäische Idee“ in epischer Breite die geistigen Höhenflüge und organisatorischen Interna der bereits in der Résistance wirkenden europäischen Föderalistenverbände, um zu beweisen, dass die Idee vom gemeinsamen Europa keine bürokratische Veranstaltung nach dem Zweiten Weltkrieg war, sondern eine moralische Idee, deren Ursprung im anti-totalitären Kampf gründete.

Grimmig schildert Niess, wie die hochherzige Idee vom föderalen Europa dann von den Realpolitikern des Kalten Krieges eingeholt und ausgehöhlt wurde. Insbesondere Winston Churchill hatte sich den moralischen Impetus zunutze gemacht und die idealistische Bewegung ausmanövriert, indem er sie gegen die Sowjetunion in Stellung brachte. Seine berühmte „Rede an die akademische Jugend“ war eine vergiftete Rede: Der ehemalige Kriegspremier stellte sich an die Spitze der Bewegung, um sie zu brechen. Vor allem die beiden Hauptforderungen der Föderalisten, die Auflösung der Nationalstaaten zugunsten eines europäischen Bundesstaates, und die Einbindung Osteuropas in ein föderales Konzept, wollte der Brite 1946 nicht akzeptieren. Das eine hätte das Ende des Empire bedeutet, das andere die Eindämmungspolitik gegenüber der Sowjetunion gefährdet. Altiero Spinelli, unter Mussolini inhaftiert und einer der Väter der linksföderalistischen Europabewegung, sprach rückblickend gar von Churchills „Sabotage“ gegenüber einem freien, selbstbestimmten Europa.

Es ist das Verdienst von Frank Niess, uns daran zu erinnern, dass es vor der Restaurierung der europäischen Nationalstaaten nicht nur jene liberal-konservative Europa-„Erzählung“ gab, die im Haager Kongress von 1948 gipfelte (und von Gauck positiv erwähnt wird), sondern auch jene linke nicht-kommunistische „Erzählung“, die 1946 im schweizerischen Hertenstein in zwölf Thesen ihren Niederschlag fand (und von Gauck ignoriert wird).

Die Vereinigten Staaten von Europa waren ein probates Mittel zum Zweck der Eindämmung des Sowjet-Kommunismus und die moralische Konsequenz aus der im Widerstand geborenen Idee vom einigen, demokratischen und grenzenlosen Europa.

Es gibt eben immer zwei Erzählungen im Leben.

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