Die Deutschen reagieren – zu Recht – besonders heftig auf Snowdens Enthüllungen. Das Misstrauen ihrer Verbündeten empört und kränkt sie. Sie fragen sich: Warum trauen uns „unsere Freunde“ nicht über den Weg?
Auf der Weltkarte der NSA-Überwachung ist Deutschland gelb eingefärbt. So gelb wie China. Nur Indien, Pakistan, Iran und Ägypten werden noch stärker überwacht als Deutschland. Alle europäischen Länder – außer Deutschland – sind grün eingefärbt. Grün bedeutet: harmlos. Diese Länder werden nur schwach überwacht. „Die große Schnüffel-Karte“ (die beim Spiegel übrigens anders aussieht als bei der Bildzeitung) ist eine ungeheure Kränkung. Denn wenn ein Musterschüler schlecht behandelt wird, geht die Verletzung besonders tief.
Die Deutschen als die Treuesten der Treuen tragen jetzt eine elektronische Fußfessel Marke NSA. Als wären sie „Sittlichkeitsverbrecher“, die sich ein Mal am Tag bei ihrem Sozialbetreuer melden müssen.
Darüber hinaus erfährt das ganze Land eine nationale Demütigung. Ausgerechnet wir Deutschen, die wir die Re-Education durchlaufen und die Demokratie praktisch auswendig gelernt haben, erfahren nun, dass Deutschland als Staat nicht wirklich souverän ist. Dass uns Briten und Amerikaner (und vermutlich auch Franzosen) lückenlos überwachen dürfen.
Warum tun sie das?
Der lange Arm der Geschichte
Es gibt ein paar historische Gründe, die man nicht vom Tisch wischen kann. Amerikanische und britische Sicherheitsberater befürchten zum Beispiel immer, dass die Deutschen wieder einen Sonderweg gehen könnten. Auch wenn wir „unseren Freunden“ hundert Mal versichern, dass wir inzwischen so westlich geworden sind wie Johnny Cash oder 50 Cent – ihre Geheimdienste glauben es einfach nicht. Sie denken an den uneingeschränkten U-Boot-Krieg von 1917, an Rapallo, an den Hitler-Stalin-Pakt, an deutsch-russische Deals.
Zbigniew Brzezinski, der wichtigste außenpolitische Berater Jimmy Carters, sah in der möglichen „eurasischen“ Kooperation (Europa & Asien) die große Zukunfts-Gefahr für Amerikas Vorherrschaft. Maggie Thatcher warnte bis zuletzt vor einem wieder erstarkten Deutschland in der Mitte Europas, denn mit der deutschen Vereinigung würde das bewährte britische „Teile und Herrsche“-Prinzip in Kontinentaleuropa nicht mehr funktionieren. Logische Folge: Man musste die Deutschen überwachen. Und da der BND eine amerikanische Schöpfung ist, war das auch gar nicht so schwer. (Wie stark die Überwachung durch die West-Alliierten zwischen 1949 und 1989 war, kann man bei Joseph Foschepoth nachlesen).
Natürlich ist der islamistische Terrorismus heute nicht der einzige Grund für die Spitzelei. Die EU ist für die britisch-amerikanische Industrie zu einer mächtigen Konkurrenz aufgestiegen. Man will in Washington oder London frühzeitig wissen, was kontinentaleuropäische Firmen wie EADS oder Siemens oder Rheinmetall vorhaben, welche Maschinen oder Produkte sie an wen verkaufen, welche „Schurkenstaaten“ von deutschen Mittelständlern mit Spezialchemie, Elektronikteilen oder Waffen versorgt werden. Ja okay, man verschafft sich durch Wirtschaftsspionage natürlich auch Wettbewerbsvorteile. Aber sollen Amerikaner und Briten zusehen, wie deutsche Firmen an China, Libyen, Syrien, Irak oder Iran verdienen? Solche Geschäfte will man – im Zweifel – doch lieber selber machen.
Unsere Nato-Verbündeten wissen auch, in welchen Teilen der Welt das Ansehen Deutschlands besonders hoch ist. Die Deutschen verfügen aufgrund der beiden Weltkriege über traditionell gute Beziehungen zu anti-britisch oder anti-amerikanisch eingestellten Staaten. Überall, wo es britische Kolonien gab oder amerikanische „Militärhilfe“, hört man als Deutscher noch heute die erstaunlichsten Ansichten über Deutschland („Beckenbauer gut!“, „Hitler gut!!“).
Das kaiserliche Deutschland hat Lenin im Ersten Weltkrieg im verplombten Güterzug von Zürich nach Russland expediert, damit er dort die russische Revolution anzetteln kann. Aber nicht nur in Russland und im Kaukasus – in vielen Ländern von Afghanistan bis Persien, von China bis Indien hat Deutschland einst nationale Revolten gegen Großbritannien inszeniert, mit Terror, Sabotage, Banküberfällen, Aufständen und allem, was dazugehört. Das ist in den Hauptstädten so unvergessen wie Hitlers Barbarei. Und wenn eine deutsche Regierung heute – aus guten Gründen – einen Krieg der Willigen gegen den Irak ablehnt oder bei einer Libyen-Resolution im Weltsicherheitsrat mit China und Russland stimmt, dann spitzen die irritierten Westmächte – im wahrsten Sinne des Wortes – ihre großen Ohren.
Sie haben auch nicht vergessen, wo die intellektuellen Wurzeln des Antisemitismus und des Antiamerikanismus liegen. Die deutsche Rechte und die deutsche Linke stehen deshalb unter besonderer Beobachtung, auch wenn uns Deutschen das übertrieben und hin und wieder paranoid erscheint, und uns manche ärgerliche Gleichsetzung oder Analogie die Haare zu Berge stehen lässt.
Aus all diesen Gründen – und weil in Deutschland lange Zeit die Systemgrenze verlief – wurden die west-deutschen Geheimdienste nach 1945 eng an die west-alliierten Dienste gebunden. Mit Billigung aller west-deutschen Regierungen. Aber die Zeiten ändern sich.
Nur durch Widerstand können wir beweisen, dass wir Demokraten sind
Nichts von alledem rechtfertigt heute die Totalüberwachung unserer privaten Kommunikation. Demonstrationen und Proteste sind darauf die richtige Antwort. Würden die Deutschen die kränkende und ehrverletzende Behandlung durch die westlichen Geheimdienste widerstandslos hinnehmen, wäre das ein untrügliches Alarmzeichen. Dann müssten unsere britischen und amerikanischen Freunde tatsächlich annehmen, dass es in Deutschland nicht genügend Demokraten gibt.
Diesem Verdacht sollten wir uns auf keinen Fall aussetzen.
Siehe auch meinen Beitrag „Die Kränkung der Demokraten“ in der FAZ
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