Syriza und Podemos sind nicht mehr allein. Mit Bernie Sanders & Jeremy Corbyn präsentieren sich erstmals zwei angelsächsische Vertreter des Wind of Change. Zwar glauben die hiesigen Eliten, sie könnten die „Rebellen“ als Witzfiguren und Sonderlinge abstempeln, aber das wird nicht mehr lange funktionieren.
Die deutschen Leitmedien, also die „Wahrheitspresse“, würden die Kandidaten am liebsten in die linksextreme Ecke stellen oder als grantelnde Alte in die Theaterloge der großen Politik verbannen – wie Waldorf und Statler in der legendären Muppetshow. Denn Bernie Sanders, der überraschend populäre US-Präsidentschafts-Kandidat aus Vermont, und Jeremy Corbyn, der überraschend populäre Anwärter auf den Vorsitz der britischen Labour-Partei, sind schon 73 und 66 Jahre alt. Seit mehr als 30 Jahren „wettern“ sie gegen eine neoliberale Politik, die die Reichen immer reicher, die Mittelschichten immer ratloser und die Armen immer ärmer macht.
Das ist natürlich unerhört! Die jüngste Ausgabe der Zeit berichtet, dass dem Kandidaten Bernie Sanders die Herzen der gebeutelten Amerikaner zufliegen:
„Zu seinen Auftritten kommen mehr Zuschauer als zu den grell orchestrierten Events aller anderen Präsidentschaftskandidaten. Im Juli sprach er vor 10.000 Menschen in Madison im Bundesstaat Wisconsin, 15.000 waren es wenige Wochen später in Seattle. Mit 28.000 Zuhörern in Portland legte Sanders am Sonntag seinen bislang größten Auftritt hin. Hillary Clinton brachte es in der Eröffnungs-Veranstaltung in New York nur auf schlappe 5.500 Zuschauer.“
Offenbar hören jene Amerikaner, die in den deutschen Leitmedien höchst selten vorkommen, ganz gern die Kritik an „gierigen Milliardären“ und „kriminellen Banken“. Sie finden Sanders moderate politische Positionen – für einen flächendeckenden Mindestlohn, für kostenlose Hochschulausbildung, für staatliche Beschäftigungsprogramme – gar nicht so verkehrt. Das „politische Establishment“ der USA schmähe ihn deshalb als „Sonderling“. So weit der Bericht.
Und was macht die Zeit-Redaktion daraus? Sie übernimmt bereits im Vorspann ihres Beitrags das Urteil des „US-Establishments“ und schreibt im Indikativ, Sanders „ist ein politischer Sonderling“.
Die „Freunde“ von der Hamas und irische „Genossen“
Jeremy Corbyn ergeht es ähnlich. Die Website der Tagesschau wählt als Überschrift den inneren Widerspruch „Linker Außenseiter gewinnt Labour-Herzen“. Und die FAZ ernennt Corbyn zum „britischen Tsipras“. Denn die Leitmedien müssen Nachrichten immer so „kuratieren“, dass sie von den Lesern auch richtig verstanden werden. Bei der Tagesschau gehört Corbyn deshalb dem „extrem linken Parteiflügel von Labour“ an („linker Flügel“ genügte der Redaktion offenbar nicht). Der „bärtige, grauhaarige“ Außenseiter löse – ähnlich einem Popstar – eine wahre „Corbynmania“ aus, weil er – Potzdonner – für eine „faire Gesellschaft“ wirbt. Und natürlich überzeugt er die Massen nicht als Politiker, nein, er „surft“ bloß auf einer „Welle der Sympathie“.
Die FAZ – seit Schirrmachers Tod wieder freudig reaktionär – sagt gleich im Vorspann ihres Berichts, wo’s lang geht: „Im Rennen um den Vorsitz der Labour Party führt ein linksradikaler Autogegner, Pazifist und Vegetarier.“ Damit scheint alles gesagt. Aber es kommt noch schlimmer. Corbyn, so die FAZ angewidert, „verachtet“ die Monarchie ebenso wie den Kapitalismus.
„Nie hatte er ein nennenswertes Parteiamt inne – er war der, der auf die provisorische Bühne stieg, wo gerade gegen den Irakkrieg oder Nuklearwaffen protestiert wurde, das Klima gerettet und Blockaden gegen Banken organisiert wurden.
Corbyn gehörte zu den ersten britischen Abgeordneten, die Freiheit für Nelson Mandela forderten, er spann Kontakte von seinen „Freunden“ bei der Hamas bis zu den Sozialisten Venezuelas und nahm besonderen Anteil an der irischen Politik.
Am Dienstag ließ er sich mit dem irischen „Genossen“ Gerry Adams von der links-nationalistischen Sinn Fein im „Portcullis House“, dem Sitz vieler Abgeordneter, fotografieren.“
Solche Absätze, gespickt mit unterschwelligen Verurteilungsbegriffen und feinsinnigen Anführungszeichen, laufen bei der Qualitätszeitung FAZ unter „Bericht“. Man sieht förmlich, wie es den Autor schüttelt. Aber Gott sei Dank kann er noch einen namenlosen Politikberater als unabhängige Quelle zitieren, der Corbyns Anhänger „schlicht ‚Schwachköpfe’“ nennt.
Dieser Corbyn nun „widersetzte sich als einziger Kandidat“ (!) der amtierenden Labour-Vorsitzenden „und stimmte mit 47 Fraktionskollegen vom linken Flügel gegen das Sozialhilfe-Sparprogramm der konservativen Regierung“. Das muss man sich einmal vorstellen: Ein Sozialdemokrat, der es wagt, gegen die Politik der konservativen Regierung zu stimmen!
In Deutschland kann man sich so etwas gar nicht mehr vorstellen.
Update 13.8.: Die Bildzeitung macht Bernie Sanders heute zum gefährlichen „Querulanten“, der österreichische Standard nennt ihn ein „linkes Schreckgespenst“ und die Badische Zeitung vergleicht ihn mit einem „ungemachten Bett“.
Wie schnell sich der mediale Blick auf die linken „Außenseiter“ ändern kann, dokumentiert der Fall Alexis Tsipras. Tsipras gilt inzwischen als alternativlos und als Garant der Stabilität.
Und wie man ohne Schaum vor dem Mund über Jeremy Corbyn berichten kann, beweisen der Freitag und der Guardian.
lieber wolfgang,
ab
[..] Die deutschen Leitmedien, also die „Wahrheitspresse“,
wollte (sollte?) ich eigentlich auhören zu lesen …
wieso tun jetzt eigentlich alle so, als ob sie gerade erst entdeckt haben, daß (skandaaaal!) zeitungen nicht dazu da sind, die „wahrheit“ (wenn mal jemand raus hat, was ds ist „die wahrheit“, soll er mir bitte bescheid sagen) zu verkünden sondern (überraschung!) auch nur durch texte aufgehübschte werbeblättchen sind?
also, ahem, ich weiss das seit ca 30 jahren, hab‘ die „nachrichten“ im tv und die lektüre von magazinen seitdem durch das hören von features oder guten radiosendungen ersetzt … und denke, sich ver#####t fühlen _wollen_ ist wohl das neue 20 …
[..] die Zeit-Redaktion … übernimmt bereits im Vorspann
[..] ihres Beitrags das Urteil des “US-Establishments”
also das, das hat mich jetzt wirklich total überrascht1 das hätte ich niiieeee gedacht, daß die zeitung, die jedes noch so blöde abenteuer, in das sich dubya, sarko oder cameron gestürzt haben, rechtfertigte, das urteil des „us-establishments“ vertritt. alles aber doch nicht das /s
[..] wie Waldorf und Statler
also du, du bist waldorf. und ich bin statler 😉
ernsthaft: ich als publikum war seit gut 30 jahren nicht mehr so blöd, irgendwas, was irgendwo in den MSM stand, für „richtig“ zu halten, ich war/bin hippie, meine sicht der dinge kam früher höchstens mal in de sphinx, der liebe oder (hihi, mit dem besitz aller ausgaben muss ich einfach prahlen) die neue zeitung vor, fand ich immer elend, aber ich war und bin eben nicht mainstream und würde eher misstrauisch, wenn in den MSM mal meine sicht der dinge vorkäme.
wieso haben alle, nun auch noch du, bloß den gedanken, sie hätten ein „recht“ auf „die wahrheit“? also _unsere_. die anderen haben zwar auch ihre version davon, aber wen kümmert schon das, was die anderen denken?
hey, wir sind 2015! sch### auf die anderen!
also früher hat man, wenn man denn eine hatte, seine eigene zeitung gegründet und sie dort auf gedeih und verderb verkündet. heute sitzen alle wie waldorf und statler oben auf der empore und amüsieren sich über die, die da unten das stück aufführen … aber mehr auch eben nicht. na gut, es gibt die NDS … aber hey, da kann ich ja gleich RTD gucken und alle anderen dinge im angebot machen mich mittlerweile ja auch fassungslos und ich verbarrikadiere mich in meiner kleinen radiowelt, wo ich täglich vier wahrheiten nebeneinander bekomme und sie abwägen kann.
über tage hinweg, ich muss mein bauchgefühl nicht sekündlich raustweeten.
deinen optimismus in sachen corbyn und sanders kann ich nicht teilen. wird so sein, wie bei uns vor der letzten wahl, da sah es schlecht aus für die kanzleröse und plötzlich haben alle nur noch drüber geredet, daß die grünen ein pädoproblem haben. weil alle, die sich online äußerten, nach dem stinkenden fisch geschnappt und ihre häme ausgegossen haben, hat das auch funktioniert, oder?
und, siehe schröder, links muss immer soweit nach rechts rücken, bis man es mit denen kaum noch unterscheiden kann, dann … und nur dann … wird bei uns mal anders gewählt. und nach meiner begeisterung als deadhead für obama bin ich so ernüchtert, daß ich mich eh für niemandem mehr werde erwärmen können ohne nicht sofort zu ahnen, daß ich gleich hopps genommen werde. ich kann deinen optimismus hier also schon mal gar nicht teilen.
es wird sich nichts ändern. nicht, wenn wir die debatte auf dem niveau von „wahrheit“ und „lüge“ führen. du biederst dich, wenn ich mir die spitze erlauben darf, da dem zeitgeist und der jugend zu sehr an und … naja, ich hab‘ dich bisher eher als älltern herren mit gelassenem überblick geschätzt, der eben nicht auf diesem niveau limbo tanzt.
ach ja – kleiner hörtipp: dirk asendorp „skandal – das geschäft mit der empörung“
und: statt uns über die „lügenpresse“ (denn das wort schwingt ja in deinem „wahrheitspresse“ ncht gerade subtil mit) zu erregen, sollten wir lieber mal auf uns selbst, unsere rezeption des gelesenen/gesehenen, auf unsere faulheit, gegenöffentlichkeit zu organisieren, reden. und nicht waldorf & statler spielen.
ooops, kannst du den tag nach „empörung“ korrigieren? danke
Sie hatten diese Tendenz zur intellektuellen Bevormundung des (oder wahlweise Anbiederung bei dem) Publikum(s) schon in „Gefühlter Journalismus“ treffend beschrieben. Ich habe den (früheren?) Beruf des Journalisten selbst vor knapp dreißig Jahren gelernt und bilde mir ein, wir seien damals quasi genau entgegensetzt ausgebildet worden, d.h. insbesondere in den „tatsachenorientierten“ Formaten Klischees, unterschwellige Wertungen, unbelegte Indikativen etc. unbedingt zu vermeiden. Etwa so, wie ein Metallbauer lernt, sauber zu feilen oder zu drehen. Man muss keine Koryphäe sein, um solche Handwerksregeln anzuwenden. Ich bin schon zu lange aus der Praxis raus und auch nicht sicher, ob ich das rückschauend romantisiere. Aber ich frage mich wirklich: Sind das schlicht Symptome einer Entprofessionalisierung? Oder versteht sich der Berufsstand inzwischen einfach selbst Anders, ist das Ausdruck einer Programmatik?
Ich HABE bereits aufgehört, täglich bei FAZ, SZ, Tagesspiegel, Spon, ZEIT etc. reinzuschauen; TV-Konsum gibt’s bei mir schon lange nicht mehr…
Und es geht.
Ich bin bestens informiert durch bestimmte Seiten im Internet, auch wissenschaftliche, in denen Dinge und Sachverhalte nicht von ahnungsbefreiten Deppen beschrieben werden.
Es gibt auch in der Presse Ausnahmen, wie -neben Contsantin Seibt- den wunderbaren Richter Fischer (ausgerechnet in der ZEIT) :
„Journalisten, deren intellektuelle Fähigkeiten und Fachkenntnisse gerade eben zum Zubinden der Schuhe und zum Auftragen von Mascara ausreichen, erklären Hunderttausenden von Medien-Konsumenten die Welt (wie sie ihnen oder ihren Marionettenspielern gefällt). „
Neoliberale, hört die Signale! Syriza und Podemos sind nicht mehr allein. Mit Bernie Sanders & Jeremy Corbyn präsentieren sich erstmals zwei angelsächsische Vertreter des Wind of Change. Zwar glauben die hiesigen Eliten, sie könnten die „Rebellen“ als Witzfiguren und Sonderlinge abstempeln, aber das wird nicht mehr lange funktionieren. Quelle: Wolfgang Michal […] – See more at: http://www.wolfgangmichal.de/2015/08/neoliberale-hoert-die-signale/#sthash.jiw0oaCm.dpuf
Super Bericht, den zu lesen ich den NDS zu verdanken habe.
Es geht ja nicht nur um die beiden ältren Herren, deren Einstellung ich bewunderugswürdig finde, sondern um das, was sie bei der Bevölkerung und ihrer Haltung auslösen. Und das stimmt einfach nur optimistisch.
Ich dachte nämlich schon, die Bevölkerung in USA und GB sei weitgehend schon wund geschossen, dass sie sich für nichts mehr interessiert.
Darum Herr Michal, vielen herzlichen Dank für diesen schönen Bericht, der so locker und leicht auch die hiesigen Medien erklärt – so ganz ohne „schmale Lippen und den bösen Blick“ wie bei diesen, sondern einfach mit viel Humor und Ironie.
Man kann nur hoffen, dass „recherchierende Journalisten“ nicht irgendein eklatantes Vergehen (z.B. Haschisch geraucht, als Jugendlicher ohne Führerschein am Strand Auto gefahren o.ä.) aus dem frühen Leben von Sanders und Corbyn „aufdeckt“, das sie für ein hohes politisches Amt selbstverständlich disqualifiziert…