Wolfgang Michal
Umbrüche & Entwicklungen

Die Digitalcharta – ein deutscher Sonderweg

5. Dezember 2016, 13:44

Mit viel Getöse hat eine Initiative von Netzaktivisten, Politikern, Wissenschaftlern, Schriftstellern, Journalisten und Bürgerrechtlern eine „Charta der Digitalen Grundrechte“ präsentiert. Doch die gut gemeinte Idee hat mit der „Bill of Rights“, die Web-Erfinder Tim Berners-Lee 2014 für das globale Netz forderte, wenig zu tun.

23 Artikel hat die neue deutsche „Charta“ und dazu eine wunderschöne Präambel, die sich liest wie die feierliche Proklamation eines Kreises von Notabeln, die vom preußischen König beauftragt wurden, das wilde Netz zu zivilisieren. Ein honoriges Unterfangen also, und wenn es ganz nebenbei der Inthronisierung eines sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten dienen sollte, so rückt das die guten Absichten nicht automatisch in ein schiefes Licht.

Doch die nationale Perspektive ist das Grundproblem dieser Charta. Denn mit ihr wird die ursprüngliche Idee, dem Netz eine globale Verfassung zu geben, um es vor staatlichen Übergriffen zu schützen, in ihr Gegenteil verkehrt. Um das zu begreifen, muss man ein paar Jahre zurückgehen und dem Erfinder des „World Wide Web“, Sir Timothy Berners-Lee, ein wenig zuhören.

Das Netz, das wir wollen

Berners-Lee und seine Lebensgefährtin (und spätere Ehefrau) Rosemary Leith gründeten 2009 in Uganda die World Wide Web Foundation, eine global agierende Stiftung, die sich für einen gleichberechtigten und erschwinglichen Internet-Zugang für alle Menschen einsetzt, egal ob sie in Indien, Angola, Peru oder Moldawien leben. Im Dezember 2013 startete die Stiftung die Initiative „The Web We Want“ („Das Netz, das wir wollen“). Aufgabe der Initiative, die von der guatemaltekischen Menschenrechtsanwältin Renata Avila geleitet wird, ist es, für die Unabhängigkeit und Neutralität des Netzes zu werben. Dazu zählen als Kernprinzipien: der freie Zugang zum Netz, die Meinungsfreiheit, der Schutz der Privatsphäre und der plurale, offene und dezentrale Charakter der Internet-Plattformen. In diesem Zusammenhang forderte Tim Berners-Lee am 12. März 2014 eine Magna Carta bzw. eine Bill of Rights für das Internet.

Dem Web-Erfinder ging es darum, das Netz als öffentliches Gut der gesamten Menschheit zu begreifen, als Gut der Bürger, das weder Regierungen noch Konzernen ausgeliefert werden darf. Das konkrete Motiv für seine Forderung nach einer Bill of Rights – und dies ist für die Beurteilung der deutschen Initiative entscheidend! – war nicht das Problem von überhand nehmenden Hass-Postings auf Facebook oder die erdrückende Konkurrenz von Google für die deutschen Verlage, es war die globale Überwachung durch die staatlichen Geheimdienste, die der Whistleblower Edward Snowden im Juni 2013 aufdeckte. Snowdens Enthüllungen waren der Grund, warum Berners-Lee eine Bill of Rights für das Internet forderte. Er bewegte sich damit in der Tradition jener Verfassungsschöpfer, die Grundrechte immer als Abwehrrechte der Bürger gegen den Staat definieren.

Wie man eine richtige Debatte in falsche Bahnen lenkt

In der deutschen Debatte trat dieser Anspruch aber von Anfang an in den Hintergrund, ja er wurde geradezu mutwillig marginalisiert. Frank Schirrmacher, der intellektuelle Feuerkopf der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, startete im Februar 2014 eine Feuilleton-Debatte, in der es vor allem darum ging, die Abwehrrechte der Bürger gegen die Internet-Konzerne des Silicon Valley zu formulieren – und zwar mit Unterstützung europäischer Politiker (Neelie Kroes, Guy Verhofstadt, Joaquin Almunia). Eröffnet wurde die Debatte am 6. Februar 2014 durch EU-Parlamentspräsident Martin Schulz. In diesem Politiker sah Schirrmacher, der sich schnell für Menschen und Themen begeistern konnte, den idealen Verbündeten gegen den Machtanspruch von Google und Facebook. Schulz’ Beitrag hieß denn auch: „Warum wir jetzt kämpfen müssen“.

In der FAZ-Debatte von 2014 meldeten sich auch eine ganze Reihe von Personen zu Wort, die jetzt als Initiatoren der digitalen Grundrechte-Charta wieder in Erscheinung treten (der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel, der 2014 noch mitdiskutierte, fehlt allerdings!). Alle Beiträge der Debatte wurden im Mai 2015 unter dem Titel „Technologischer Totalitarismus“ als rotes Suhrkamp-Bändchen veröffentlicht. Titel, inhaltliche Stoßrichtung und Autorenkreis (darunter zwei Vertreter des Axel Springer-Verlags!) verdeutlichen, wie sehr das ursprüngliche Motiv von Berners-Lee („Abwehr des Staates“) durch ein anderes Motiv („Abwehr der Internet-Konzerne“) verdrängt wurde. Dieser Themenwechsel ist vor allem den speziellen Interessen deutscher Verlage geschuldet, die das Thema auf diese Weise nationalisierten.

Unabhängige Bürger-Initiative oder Wählerinitiative?

Da Schirrmacher im Juni 2014 unerwartet starb, übernahmen Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo und die Zeit-Stiftung die ehrenvolle Aufgabe, die begonnene Debatte im Geiste des verstorbenen Kollegen fortzuführen. Sie übernahmen dabei auch die (nationale) Perspektive, den Staat nicht als potentielle Gefahr für ein freies und unabhängiges Internet, sondern als Schutz- und Trutzmacht der Bürger gegen die Zumutungen amerikanischer Technologie-Konzerne zu sehen.

EU-Parlamentspräsident Martin Schulz lieferte erneut den Auftakt-Essay. Am 27. November 2015 schrieb er einen Gastbeitrag für die Zeit unter dem programmatischen Titel „Warum wir eine Charta der digitalen Grundrechte brauchen“. Wir brauchen sie, so Schulz, weil die heimische Wirtschaft vom „technologischen Totalitarismus“ der Internet-Konzerne massiv bedroht wird. Kein einziges Wort verliert Schulz über die Bedrohung der Bürger durch staatliche Überwachung.

Bundesjustizminister Heiko Maas, ebenfalls SPD, legte zwei Wochen später einen 13 Artikel umfassenden Grundrechte-Katalog für das digitale Zeitalter vor. „Die größte Herausforderung der Digitalisierung“, schrieb er, bestehe nun darin, „wie wir die Machtasymmetrie zwischen uns Normalbürgern und den Internetgiganten demokratisieren, ohne dadurch die Vorteile der neuen Technologie zu verlieren. Damit das gelingt, müssen sich die Staaten wieder auf ihre Handlungsmöglichkeiten besinnen und ihre demokratische Macht nutzen.“ Das klingt, als wäre der Staat der ideale Beschützer des Internet, als würden die Staaten ihre Macht nie dazu nutzen, die Bürger mit Hilfe des Internets auszuspähen, als würden die Staaten den Bürgern bei der Durchsetzung ihrer Grundrechte überall redlich zur Seite stehen.

Diese naive (deutsche) Staatsgläubigkeit und die erfolgreiche Verengung der Debatten-Perspektive auf die Internetgiganten des Silicon Valley hat die Charta-Initiatoren wohl auch dazu verleitet, einem so unsinnigen Artikel wie dem zur „Meinungsfreiheit“ zuzustimmen. Offensichtlich haben weder die beteiligten Juristen noch die gewieften „Netzaktivisten“ erkannt, auf welche problematische Linie sie sich da verpflichten ließen. In letzter Konsequenz laufen ihre Bestrebungen darauf hinaus, das Internet in eine grundrechtsgebundene „datenverarbeitende Behörde“ umzuwandeln oder es zumindest durch die Bundesnetzagentur und ihre europäische Entsprechung umfassender als bisher zu regulieren. Für eine Wählerinitiative zugunsten eines nationalen Kanzlerkandidaten mag das in Ordnung sein, für eine global orientierte Bürger-Initiative ist es ein Armutszeugnis.

Wie weiter?

Was aus der verunglückten Charta nun werden wird, ob sie anstandshalber von den zuständigen Brüsseler Ausschüssen „behandelt“ wird oder als skurriler Sonderweg deutscher Politiker und „Aktivisten“ abgehakt werden kann – wir wissen es nicht. Vielleicht wird es noch substantielle Verbesserungsvorschläge geben, vielleicht orientiert man sich am brasilianischen „Marco Civil da Internet“, aber vielleicht reicht den Initiatoren auch das Setzen einer Duftmarke in eigener Sache. Da die Charta nur ein unverbindliches Diskussionsangebot darstellt, könnte man sie aufgrund der massiven Kritik auch zurückziehen und neu ausschreiben. Denn so wie sie zustande kam – mit ihrer nationalen Verengung auf partikulare Interessen (Art. 22) und ihrer naiv-deutschen Fixierung auf den Staat als Problemlöser (Art. 5) – wird sie dem Thema einer globalen Bill of Rights nicht gerecht.

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5 Kommentare

  1. Sehr richtig, die nationale Perspektive ist das Hauptproblem. vor allem, wenn es eine Charta „für die EU“ sein soll. Aber aus einem deutschen Text wird kein EU-Text, wenn man ihn mit einer Delegation bei Herrn Schulz n Brüssel übergibt. Nicht einmal „unser“ Digitalkommissar Oettinger war beteiligt, aus naheliegenden, aber doch auch bornierten Gründen. Wenn man etwas „für die EU“ machen will, dann muss auch EU drin sein, sorry. http://lostineu.eu/deutsche-digitalcharta-fuer-die-eu/

  2. Daß die Lee’sche Rechteproklamation von interessierter Seite gekapert werden würde, damit war zu rechnen.
    Das eigentliche Problem dabei ist, daß die Rechte so unterschiedlicher Teilnehmer wie Bürger und Dissidenten, Polizisten, Militärs und Geheimdienstler, Verkäufer und Kunden, Werbetreibender, Käufer und Werbeaddressaten, Leser, Zeitungsredakteure und und und und unter einen Hut zu bringen sind.

    Es reicht aber heute nicht mehr, vom Staat in Ruhe gelassen zu werden, sondern mindestens genauso wichtig ist die Ruhe vor mächtigen Unternehmen. Wie viele Aspekte da anzusprechen sind, sieht man an der Paragraphenzahl des BGB. Der Pharao verhüte, daß da ein ebensolcher Schinken herauskommt, es wird aber kaum ausreichen nur ein paar wenige Seiten zu Papier zu bringen.
    Wie nahe der Cyberspace bereits einem failed state gekommen ist, sieht man daran, was derzeit im IoT, dem Internet of Toilets los ist.

  3. Für mächtige Unternehmen gibt es z.B. das Wettbewerbsrecht. Wer mächtige Unternehmen – weil ihm keine anderen Mittel einfallen – flugs mal zu Staaten erklärt, gegen die globale Abwehrrechte (als Grundrechte) formuliert werden müssen, überhöht zum einen die Rolle dieser Unternehmen, zum anderen ergibt sich ein ganz praktisches globales Problem. Wer schützt z.B. die Grundrechte gegenüber Facebook in Saudi-Arabien, in der Türkei oder in Russland? Der Staat? Letztlich werden die Abwehrrechte in der Charta genau jener Instanz ausgeliefert, gegen die sie gerichtet sind. In einer sozialdemokratischen Gedankenwelt mag das funktionieren, aber sonst?

  4. Ich denke das mit den Abwehrrechten wird ziemlich bald auch in westlichen Staaten auch gegenüber dem Staat nicht mehr funktionieren, da die Gefahr besteht, daß sich da so einige ein Beispiel am ‚Twitterer in Chief‘ nehmen werden und entsprechende Leute in den Obergerichten installieren werden. Einige Länder in Europa (Ungarn, Polen, …) gehen ja bereits seit einiger Zeit mit Riesenschritten voran und andere werden folgen, spätestens sobald es durch das Beispiel USA gesellschaftsfähig wird.

    Dummerweise sind in der Zwischenzeit einige Konzerne finanzmächtiger als ganze Staaten und die Zusammenarbeit beim Daten abgreifen funktioniert ja wie geschmiert. Viele Rechte stehen in der Zwischenzeit leider nur noch auf dem Papier, sowohl gegenüber dem Staat wie gegenüber Großkonzernen, nicht nur in Saudi-Arabien, Türkei, Russland, China … .

  5. Liebe alle,

    ein grossartiger text von Wolfgang. Jetzt nochmal zur erinnerung:
    We’re working to expand access to the Web for the 60% of the planet who are still not connected.
    We’re fighting to ensure that everyone’s voices can be heard online, and that the Web serves people, not governments or corporations.
    We’re innovating to make knowledge and data freely accessible to all online.

    Das sind die kernziele von Tim Berners-Lee. In der „Bill of Rights“ gegen Staaten und Konzerne. Fuer die menschen. Das ist natuerlich ein direkter akt gegen das krebsgeschwuer Staat und seine auftragsgeber.

    Die telekommunikation, in form des Internets, auf dem dann das Web existiert, traegt in sich das aufbrechen dieser altertuemlichen, feudalen struktur Staat. Zwangslaeufig, weil mit diesen leuten dies nicht zu machen ist. Sie koennen nicht und sie wollen nicht.

    Die Sozial-Demokraten, die ja den Staat immer an die 1. stelle setzen, haben dies inzwischen auch begriffen. Die telekommunikation ist dabei, die ueberfluessigkeit dieser staatlichen und privaten instanzen nun als Faktum offen zu legen. Im artikel von Wolfgang zur VG-Wort rueckzahlungsforderung wird dies ja auch deutlich.

    Aber warum sollten wir uns darauf beschraenken, nur das zu beschreiben, was andere tun. Ist es nicht sinnvoller, zu beschreiben, wie wir diesen aufloesungsprozess so nebenher gleich mit beschleunigen?

    mit lieben gruessen, willi
    z.zt. Asuncion, Paraguay
    willi.uebelherr@gmx.de

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