Wolfgang Michal
Umbrüche & Entwicklungen

Burnout im Netz?

20. September 2011, 11:19

Man könnte wirklich schwarzsehen: Unsere besten Blogger wandern zu den Altmedien ab, Social Media ist auch nicht mehr das, was es mal war, und die Netzpolitik schmort im eigenen Saft. War’s das? – Keineswegs. Jetzt geht’s erst richtig los.

Wer hätte gedacht, dass unsere Besten uns jemals verlassen würden? Niggemeier geht zum Spiegel, Lobo sitzt in den Talkshows, Sixtus arbeitet fürs ZDF. Knüwer macht Wired, Lübberding & Strobl docken an die FAZ an. Carta macht schon länger Sommerpause als Harald Schmidt es jemals verantworten könnte, Johnny Häusler beschleicht hin und wieder die Melancholie, Weissgarnix ist grußlos aus dem Netz verschwunden, und bei Basic Thinking stehen gerade ‚Los Todeswochos’ auf dem Programm. Selbst Flattr gilt als erledigt, und seit Monaten ist kein zukunftsweisendes Blogger-Manifest mehr erschienen.

Auch Social Media schwächelt. „Tschüss Social Media, es ist vorbei!“ rufen enttäuschte Berater und Marketing-Leute, die sich tiefsinnigere „Gespräche“ für ihre „Märkte“ erhofft hatten. Twitter, Facebook, Google+ – die ständige Pflege der Zeit fressenden „Freundschaftsdienste“ überfordert viele Nutzer und untergräbt ihre Lust, weiter aneinander vorbeizureden oder vorbeizulinken. Und mancher Community-Manager stellt sich die Frage, ob er sich mit konstruierten Identitäten und anonymen Zeitgenossen wirklich die Zeit vertreiben will? Was bringt es, wenn das eigene Tun so gar keinem Zweck mehr dient, sondern als Endlosschleife nur dafür sorgt, dass man nicht irrtümlich für tot erklärt wird?

Und die Netzpolitik? Die Klammer aller Nerd-Debatten? Ist es nicht seltsam, dass nun ausgerechnet die Berliner Netzpolitik (die sich in Zirkeln, Kommissionen und Gesellschaften konzentriert) den Piraten staatsmännische Ratschläge erteilt („Auf euch lastet eine große Verantwortung“)? Und wurde dieses merkwürdige Piratenpartei-Projekt („Nicht der Bürger soll gläsern sein, sondern der Staat“) nicht vor kurzem noch naserümpfend zum ineffizienten Kasperletheater und Kindergarten erklärt?

Auch im wichtigen Streit um WikiLeaks zeigte sich eine Schwäche der netzpolitischen Expertokratie, die mehr auf Interviews und geschmeidigen Lobbyismus setzt als auf Solidarität. Aus Angst, in dieser Frage nicht neutral genug zu sein, überließ man die Deutungshoheit den Printmedien. Anstatt den Geist der Transparenz („We open governments“) offensiv zu vertreten, gab man kleinmütig dieselben Bedenken zu Protokoll wie die vom Leaking betroffenen Regierungen. Stimmt es also, wenn Anpassung, Auszehrung und Burnout in gleich drei Kernzonen des Netzes – Blogs, Social Media und Netzpolitik – diagnostiziert werden?

Es stimmt, doch es spielt keine Rolle mehr. Denn alles, was bisher passiert ist, war nur das Aufwärmtraining vor dem Start, das Sich-Ausprobieren, das Üben, das Vorspiel. Jetzt wird es ernst.

Es macht sich nämlich – endlich – Unmut breit über die andauernde Selbstbezogenheit und Enge der „alten“ Netz-Debatten. Wer sich bei Rivva einen Überblick über aktuelle Themen verschaffte, der rieb sich nicht selten verwundert die Augen: iPhone, Facebook, Google, Vorratsdatenspeicherung – viel mehr ist es nicht, was den Nerd interessiert. Dies scheint nun anders zu werden. Denn der Abgesang auf Blogs, Social Media und Netzpolitik enthält kein sehnsüchtiges Verlangen mehr nach der guten alten Zeit. Er enthält, wenn man genau hinhört, einen optimistischen Refrain und einen Zugewinn an Selbst-Erkenntnis: Jürgen Vielmeier hat das am Ende seines Beitrags im Basic Thinking-Blog gut zusammengefasst:

„Wir sollten allerdings nicht so weit gehen, die vergangenen Jahre als bloße Spielerei abzutun, in der nichts Sinnvolles entstanden wäre. Die Möglichkeit, sich mit ein paar Klicks mit Menschen rund um den Erdball zu vernetzen und Trends in einer kurzen Nachricht innerhalb von Minuten einmal um den Erdball zu schicken, ist ein fantastisches Werkzeug, das wir in Zukunft noch gut gebrauchen können. Denn es wird Zeit, dass sich die klugen Köpfe den wichtigen Dingen des Lebens widmen. Zum Beispiel, wie dieser blöde Planet noch irgendwie gerettet werden kann. Um das in Angriff zu nehmen, stehen uns nun erstklassige Kommunikationsmittel zur Verfügung.“

Die Erkenntnis, dass das Netz kein Selbstzweck ist, sondern ein (Hilfs-)Mittel zur Weltveränderung, könnte eine neue „Ära“ einleiten. Die arabischen Rebellionen, die Proteste in Spanien und Griechenland, in Großbritannien und Chile, die globale Empört Euch-Literatur, das Bankendesaster, der Streit um Europa, Fukushima, der Klimawandel und die Kriege „vor unserer Haustür“ haben sicher dazu beigetragen.

Aus dem Netz heraus könnte – um ein besonders naheliegendes Thema zu nennen – z.B. eine europäische Bewegung erwachsen, die sich tatsächlich in die reale Welt unserer hilflosen National-Regierungen einmischt. Denn Europa steht an einem Scheideweg: entweder fällt es zurück in das Politikverständnis des 19. Jahrhunderts (Haltet mal die Klappe, wir machen das schon für euch!) oder es wird eine verstärkte Kooperation und Transparenz auf allen Ebenen geben. Dafür werden die Nerds tatsächlich gebraucht. Denn die Aufgabe, aus 40 oder 50 eigensinnigen Nationalstaaten eine europäische Gesellschaft mit einer von ihren Bürgern beschlossenen Verfassung zu machen, ist so gigantisch, dass man sie nicht ein paar Nationalbürokratien oder Brüsseler Beamten überlassen kann.

Mit anderen Worten: Die Zeit, in der Blogs, Social Media und Netzpolitik eine wirkliche Rolle spielen, fängt gerade erst an.

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12 Kommentare

  1. Sehr treffend zusammengefasst! Jetzt gilt es wohl nicht nur für die Berliner Piraten, die Ärmel für den Gremien- und Ausschüsse-Kampf hochzukrempeln – im Kontext wohl: die Kabelsalate zu sortieren. Das sollte auch für alle gelten, die ihnen nicht nur Gefällt-mir’s sondern Wahlzettel-Stimme und damit Mandat gegeben haben.
    Wird mal wieder ein langer Marsch, diesmal durch die „Algorithmitutionen“ – doch weil Internet ja mehr als Echtzeit ist, sollte es diesmal schneller gehen als bei den 68ern (und C64ern 😉
    Scotty, Mach3, bitte!

  2. Danke für die Erwähnung, Herr Michal. Und ich will doch hoffen, dass es jetzt erst richtig losgeht! Social Media war hip als es noch neu war. Jetzt ist es Alltag und wir können es als Werkzeug benutzen, um die wirklichen Probleme anzugehen, angefangen mit den politischen.

  3. Unsere Zukunft wird in Stuttgart entschieden.

    Es wird auf einen Vertrag gepocht, der laut mehrer Quellen (aktuell Report Mainz heute) nicht rechtskräftig ist. Denn wenn falsche Zahlen für eine Entscheidung vorgelegt werden ist dieser, durch diese falschen Zahlen entstandene Vertrag, nicht gültig.

    Dazu hat sich nach dieser Wahl Rot/Grün, durch ihre Taten wieder mal, geoutet, diese Einsicht geht aus den Demonstration-Plakaten hervor.

    Entweder dieses Rathaus wird gestürmt oder keins.
    Treffender als „Bei Abriss Aufstand“ kann man es nicht definieren, denn es wird Zeit, dass wir dieses System mit Schrecken beenden, sonst nimmt es nie ein Ende. Und da die Machenschaften am deutlichsten in BW vertuscht werden ist dort die Entscheidung herbei zuführen.

    Die Hoffnung stirbt zuletzt, ich wünsche allen Bewohner von BW den Mut gegen dieses System aufzustehen, denn wenn nicht IHR wer dann ?!

    Herr Michal, ich bedanke mich für all ihre Blog-Beiträge, nirgends habe ich so oft unausgesprochene Gedanken gelesen wie hier, Sie geben mir Mut, dass das Land der Dichter und Denker noch eine Chance hat.

  4. Es könnte sich – umgekehrt – ja auch um ein publizistisches Erwachen bei den Altmedien handeln: Es ginge derzeit dann eher zu wie auf dem Transfermarkt.

  5. Es ist doch eigentlich mit Blogs, Twitter, Netzwerken etc. wie mit jedem Werkzeug (oder Spielzeug in der Kindheit): Erstmal ausprobieren, was alles damit geht oder nicht geht, sich ausgiebig mit Gleichgesinnten über die Vorteile und Nachteile austauschen – und irgendwann setzt man dann dieses Werkzeug für was Sinnvolles ein, das auch Bedeutung für den Rest der Welt hat.

    Diese Evolution geschieht offenbar auch im schnellen Internet-Zeitalter nicht schneller als es dem menschlichen Wesen zu Eigen ist – also eher gemächlich. Und es betrifft – wie von Ihnen schon angedeutet – nicht nur die Nerds, sondern auch die „traditionellen“ Medienmacher – beide Seiten erweitern tendenziell ihren Horizont in die jeweils andere Richtung – meist allerdings im Scharping- statt im Warping-Tempo 😉

  6. Blogs und Co. würden immer noch funktionieren (wachsen), wenn man damit Geld verdienen könnte und nicht am Existenzminimum leben muss.

  7. Achtung! Der aktuell im entstehende begriffene neue Hype lautet „My prototype beat up your business plan“. Insofern ist es nur logisch zuerst den traditionellen Medien mit kostenlosen Blogs Konkurrenz zu machen und sich damit eine gute Ausgangsposition für allfällige Gehaltsverhandlungen zu verschaffen.

    Wobei die deutschsprachigen Blogger eindeutig nur in der Amateurliga mitmachen. Richtige Profis wie Michael Arrington kassieren für ihre Blogs um die 25 Mio. Dollar.

  8. mit einigem genuss und grinsen gelesen, poste hier mal ein nachdenkliches +1

    Mich fasziniert – regelmäßig, seit langem, weiterhin – die fixierung auf die leuchttürme; seien sie jetzt alpha-blogger genannt oder an umsätzen oder klicks festgemacht. Als wären sie und ihre erfolg/misserfolg DAS kriterium. Wie heißt die im netz so oft gebrauchte und eigentlich so präpotente verurteilung so ätzend: sie haben vom netz verstanden.

    Da war ja mal was mit long-tail, oder? Da war doch was mit schwarm, cloud und phänomenen der selbstorganisation von vielen, oder? Und mir scheint, es wären gleiche/ähnliche kreise, die mal gerne diese begriffe bemühen, jene phänomene erklären und dann wieder an den postings der leuchttürme hängen, deren tun genau verfolgen und zum einzigen kriterium der analyse machen, „wie es dem netz den so gehe“.

    Dem befund des burn-outs geht die hypochondrie der salonnetzgemeinde voran. (Will mir scheinen.)

  9. Letztendlich füllt auch der schillerndste Idealismus eines Bloggers keinen Kühlschrank. Zumindest nicht in Europa. Wen wundert es, wenn da klassische Verlage mit Geld und noch mehr Impact eine Verlockung sind?

    Was das „Erwachsenwerden“ des Web 2.0 angeht, so ist das ja wenig verwunderlich. In der Informatik gibt es schon seit langer Zeit die, die Computer zum Selbstzweck betreiben… und die, die darüber hinaus wachsen wollen und Computer als mächtige und komplexe Werkzeuge ansehen. Die Sandkastenphase ist vorbei.

  10. Aufrüttel-Rüffel ist angekommen!

  11. „Denn es wird Zeit, dass sich die klugen Köpfe den wichtigen Dingen des Lebens widmen. Zum Beispiel, wie dieser blöde Planet noch irgendwie gerettet werden kann.“

    Ein wenig muss ich beim Zitat von Vielmeier an Tim O’Reillys Closing Session seiner Web Expo 2008 denken, in der er die anwesenden Nerds aufforderte, sich nicht auf den technischen Errungenschaften und den paar wirtschaftlichen Erfolgen daraus auszuruhen, sondern nun endlich die wahren harten Nüsse zu knacken, die dicken Bretter zu bohren.

    Und weil’s bei Tim O’Reilly ja nicht ohne Pathos geht, las er auch gleich noch das Gedicht von Rainer Maria Rilke, das er seinem Vater an dessem Sterbebett rezitierte.

    …Wie ist das klein, womit wir ringen,
    was mit uns ringt, wie ist das groß;
    ließen wir, ähnlicher den Dingen,
    uns so vom großen Sturm bezwingen, –
    wir würden weit und namenlos…

    Und weil’s mich bis heute berührt und motiviert in schwierigen Zeiten, anbei die Links zur deutschen und englischen Version:

    Der Schauende
    http://rainer-maria-rilke.de/06d014derschauende.html

    The Man Watching:
    http://www.poetry-chaikhana.com/R/RilkeRainerM/ManWatching.htm

    von Rainer Maria Rilke, 21.1.1901, Berlin-Schmargendorf

    PS: Bei der „Europa-Mission“ bin ich dabei.

  12. Wenn die Besten Blogger abwandern, muß ich mir die Frage stellen, ob das wirklich die besten sind.

    Nein, es sind nicht die Besten. Es sind die weichgekochten, die nicht mehr die Mühe auf sich nehmen wollen, am Rande der Bedeutungslosigkeit einen wichtigen Job zu machen.

    Die Bedeutung der echten Blogger wird man erst in einigen Jahren erkennen.

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